RAA HAQ – Die Aleviten in Dêrsim

Der folgende Text wurde erstmals am 22. Dezember 2014 auf der Webseite „alevitentum.net“ der Facebook-Seite“Plattform für Aleviten“ veröffentlicht. Der Artikel kann grammatische als auch inhaltliche Fehler und verbesserungswürdige Punkte aufweisen. Daher schlagen wir Interessierenden vor, sich mit dem Thema persönlich auseinanderzusetzen. Sowohl die Facebook-Seite „Plattform für Aleviten“ als auch die Webseitenpräsenz wurde am 6. März 2015 vom Seiteninhaber Sherwan Munzur eingestellt.
Archivierte Fassung: http://archive.is/GXVto

RAA HAQÎ – RIYA HEQÎ – WEG DER WAHRHEIT

Selbstdefinition der Gemeinschaft

‚Raa Haq/Reya Heq (dt.: Weg der Wahrheit/des Gottes)‘ ist eine humanistische, naturverbundene und esoterische Glaubensgemeinschaft, die Anschauung ‚Enel Haq (Ich bin die absolute Wahrheit / der Gott‘ des pantheistischen Mystikers Mansur-al Halladsch wahrnimmt und alle Völker mit dem gleichen Auge betrachtet.

Von Anhängern der Gemeinschaft wird der Glaube auf Kirmanckî als ‚Yitiqatê Dêsımi / Yitiqatê Kırmanciye (dt.: Der Glaube Dersims oder Kirmanciye)‘ und in Kirdaskî/Kurmancî als Baweriya Dêrsim (dt.: “) bezeichnet. Es wird als ein authentischer Glaube der Aleviten aus Dêrsim aufgefasst. Sich selbst definieren die Anhänger nach Angaben des britischen Hauptmannes Molyneux-Seel, der 1911 zwei Monate Dêrsim bereiste, als Ewlade Haq (Kinder der Wahrheit) und Ewlade Rae (Kinder des Weges). Andere häufige Selbstdefinitionen der Gemeinschaft sind Saresur/Kımsor oder auch Qızılbaş. Die Bedeutung der Begriffe ist: „Rotkopf“ und ist eine seit dem späten 15. Jahrhundert vorkommende, ursprünglich eher abschätzige Bezeichnung, die unter anderem für Aleviten gebraucht wurde. Hierbei ist es erwähnenswert, dass die Bezeichnung ‚Kimsor‘ eher von Anhängern des Stammes und der geistlichen Trägerfamilie Şadiyan verwendet wird.

Laut den Historikern und Forschern Erdal Gezik und Hüseyin Çakmak bevorzugen die Menschen die Bezeichnung ‚Raa Haq‘, weil sie ihren Glauben als einen „göttlichen Weg“ sehen und dieser Weg viele andere Motive, Strukturen und Symbole neben islamischen Motiven beinhaltet. [1]

Die Heimat der Vielfalt
VolksdichterInnen wie Sey Qaji, Wakıle und die Bürger Dêrsims beschrieben in ihren Klageliedern und Texten ihre Geographie und ihre Heimat als ‚Kirmancîye‘ und Dêrsîm. Außer den Volkserzählungen gibt es in der wissenschaftlichen Forschung kaum Informationen über den Begriff ‚Kirmanciye‘.

Geographie
Der britische Offizier Captain L. Molyneux-Seel führte 1911 in Dersim eine Reise durch und recherchierte dort über die geographische Lage. In seinen Notizen steht: „Das als Dêrsim bekannte Land wird geografisch klar definiert. Es liegt im Winkel, der von zwei großen Zweigen des Euphrat, genannt Firat Su und Murat Su gebildet ist. Eine Linie, die sich durch Kighi und Palumor (Pilemoriye) zieht, und Erzingan bildet die nordöstliche Grenze. Dieser Bereich umfasst ungefähr 7000 Quadratmeilen.“ [2]

25. Juli 2012, Dêrsim

Auf den Gipfeln, an den Hängen und in den Tälern dieser Berge befindet sich eine der reichhaltigsten wildwachsenden Pflanzen- und Tierwelt des Nahen Ostens. Bergziegen, Bergschafe, Bären, Wildschweine, Wölfe, Schakale, Füchse, Hasen, Steinmarder, Stinktiere, Dachse, graue Eichhörnchen, Igel, Kriechtiere jeder Art (Eidechsen, Schlangen usw.); Luchse, Fischotter, Schildkröten, Frösche sind hier anzutreffen. An Vögeln gibt es Falken, Wanderfalken, Wachteln, Sperber, Geier, Adler, Eulen, Rebhühner, Kraniche, Störche, Tauben, Gänse, Papageien, Nachtigallen, Schwalben, Spechte, Wiedehopfe, Amseln, Raben und Fledermäuse. Darüber hinaus sind die Berge mit hunderten verschiedenen Pflanzen und Blumenarten bedeckt: Tulpe, Hyazinthe, Narzisse, Schneeglöckchen, echte Kamille, Veilchen, wohlriechender Gänsefuß, Anafatma, Tragant, wilder Thymian usw. Hagebutte, wildwachsende Äpfel und Birnen, Pflaumen, Walnuss und Zeder gehören dazu. Folgende Baumarten wachsen in Dersim: Eiche, Buche, Weide, Pappel, Walloneneiche, Spitzahorn, Birke, Schwarzerle usw. Im Fluss Munzur gibt es seltene Arten von Fischen. Vor allem die Forellen, die rot gefleckt sind und die zu den schönsten ihrer Art auf der Welt gehören, sind hier zahlreich anzutreffen. In der Region Dersim herrscht Festlandsklima. Die Sommer sind heiß und trocken, die Winter kalt und sehr schneereich. [3]

Selbstdefinition
Die alten Menschen Dêrsims, unabhängig aus welchem Landkreis sie dieser Provinz stammen antworten in ihren Muttersprachen Kurmancî/Kırdaşkî und Kirmanckî auf die Frage, was sie sind: „Em Kirmancin (Kurmancî)‘ – ‚Ma Kirmancime (Kirmanckî)‘, was die folgende Bedeutung hat: „Wir sind Kirmandsch“.  Die Soziologin Dr. Gülsün Firat kam bei ihrer Studie zum Ergebnis, dass Kirmanckî-sprechende und Kurmancî-sprechende Bewohner Dêrsims trotz den sprachlichen Unterschieden als Volk eine Einheit bilden:

„(…) Dennoch sind alevitische Kurmandschi und Zazasprachige fest davon überzeugt, die gleiche ethnische Abstammung zu haben. Das ethnische Selbstverständnis ist hier also nicht unbedingt an die eigene Sprache gebunden, sondern macht sich vielmehr an den gemeinsamen sozialen und kulturellen Komponenten fest. Denn beide Volksgruppen unterscheiden sich untereinander weder sozial noch kulturell noch religiös, so dass sie aufgrund dieser Gleichartigkeit annehmen, Bestandteil derselben Volksgruppe zu sein. [4]

(….) Die Mehrzahl der Befragten unter der älteren, noch nicht alphabetisierten Generation, identifizierte sich, abgesehen von ihrer Stammesidentität, nur als Kirmanc. Der Begriff Kirmanc, der in Dersim besonders betont wird, beinhaltet sowohl die Herkunft dieser Menschen als Kurden wie auch zugleich die religiöse Richtung als Alevit.“ [5]

Neben den Anhängern der Raa Haq, die Mehrheit in der Region darstellen, leben armenische Christen, turkmenische Aleviten und türkische und kurdische Muslime.

Dêrsim’s geographische Lage wurde im Osmanischen Reich oftmals geändert. Zuletzt erfolgte die Änderung durch die Türkische Republik. Der türkische Staat 1935 nannte durch ein Gesetz die Provinz in ‚Tunceli‘ um. Somit wurden die Grenzen ebenfalls geändert und Stadtteile und Landkreise an andere Provinzen gebunden. Die Republik erklärte die heutigen Provinzen ‚Tunceli‘, ‚Malatya‘, ‚Erzurum‘ und ‚Gümüshane‘ zu einem Teil des ‚verbotenes Gebiets‘. In diesem Gebiet bereitete sich die Türkische Republik auf eine umfangreiche Militäroperation gegen die Zivilbevölkerung Dêrsims.

Die Siedlungsgebiete und der verbreitungsmäßige Schwerpunkt der Raa Haq umfassen [6]:

Auf einer Karte, gezeichnet von Captain L. Molyneux-Seel, der 1911 auf einer Reise in Dêrsim war, sind die ehemaligen Landkreise und Städte der großen Provinz Dêrsim abgebildet. Der Landkreis Mamekîyê war das Zentrum der damaligen Provinz Dêrsim.

den östlichen Teil der heutigen Provinz Sivas [Sêvaz; Kuruçay, Muşaz (Koyulhisar), Suşehri, Zera (Zara), Dêwrığe (Divrigi), Qengal (Kangal), Hafik)
zweiten und erweiterten Koçgiri-Gebiet: 40 Dörfer im südlichen Teil der Landkreise Develi, Göksun, Sarız ve Tufanbeyli in der heutigen Provinz Kayseri
den nördlichen Teil von Bingöl [Çolig-Çapakçur-Çewlig; Çêrme (Yedisu), Xolxol (Yayladere), Azarpêrt (Adaklı), Gexî/Kêği/Koloberd (Kiğı)]
den nördlichen Teil von der heutigen Elâzığ [Xarpêt: Egin (Ağın), Keban, Qovanciyan (Kovancilar), Baskil, Dep/Qeze (Karakoçan), Palu],
einen Teil von der heutigen Malatya [Meletiye: Erebkir (Arapkir), Arga (Akçadağ)-Kürecik],
einen Teil der Provinz Adiyaman (krd.: Semsûr) und der Provinz Meres/Gurgum (Kahramanmaraş)
einen Teil von der heutigen Erzincan [Erzingan: Mamaxatune (Tercan), Manse/Mose (Çayırlı), Gercan (Refahiye), Kemax (Kemah)]
den Landkreis von der heutigen Provinz Muş: (Gımgım/Varto)
den gesamten Teil der heutigen Provinz Tunceli [Dêrsim: Mamekiye (Zentrum), Çemışgezeg, Xozat, Mazgerd (Mazgirt), Qısle (Nazmiye), Vacuğe/Pulur (Ovacık), Pêrtage (Pertek), Pılemoriye (Pülümür)],
den westlichen Teil von der heutigen Provinz Erzurum [Erzirom: Tekman, Çet (Çat), Xınıs (Hınıs), İspir]

Sprache
Die Menschen dieser Geographie sprechen überwiegend Kirmanckî/SoBê (in anderen Regionen wird die Sprache Dimilkî, Kirdkî oder Zazakî genannt) und Kırdaşki/Here Were (Kurmancî). Am 21. Februar 2009 brachte die UNESCO den Weltatlas für bedrohte Sprachen heraus. Nach Einschätzung der Organisation sind ca. 2500 bis 3000 Sprachen vom Aussterben bedroht, darunter auch die große Ählichkeiten aufweisenden Sprachen Hewramî und Kirmanckî. Heute wird die Sprache Kirmanckî eher von der älteren Generation gesprochen. Die junge Generation spricht vielmehr die türkische Sprache. In den letzten Jahren versuchen verschiedene Verbände die Sprache wiederzubeleben. Die sprachliche Assimilation betrifft jedoch nicht nur die Kirmanckî-Sprecher sondern auch Kurmancî-Sprecher, die in Europa oder in den Großstädten der Türkei leben. [7].

Glauben, Konfession oder bloß nur eine Lebensphilosophie?
Der Raa Haq Glauben lässt sich mit ihrer Liebe zur Menschheit, der Verbundenheit mit der Natur, dem Universum und Gott und der umfangsreichen Anschauung ‚Das größte lesende Buch ist der Mensch selbst‘ nicht auf Zoroastrismus, Mithraismus, Christentum, Islam oder andere Religionen beschränken. Wenn wir diesen Glauben definieren möchten, muss dabei die geographische Lage, Sprache, Kultur und die ethnische Zugehörigkeit berücksichtigt werden, weil diese Gemeinschaft von unterschiedlichen Kulturen und Religionen viele Elemente zu eigenem Nutzen in Ihr Glauben aufgenommen hat.

Der Raa Haq Glaube, der nur mit einem Aspekt behandelt wird, passt weder ins Islam noch bleibt er außerhalb des Islams. Eine einseitige Beschreibung kann je nach der Auffasung kann diesen Weg als eine Religion, eine Konfession oder außerhalb der Religionen stehen lassen. Wenn man sich mit diesem Thema genauer befasst, so wird man feststellen, dass die Raa Haq Gemeinschaft weder zu den sunnitischen, schiitischen Muslimen noch zu den Außenstehenden (Harici) oder anderen Glaubenszweigen des Islams zugeordnet werden können und sie ihrem Glauben und Riten widersprechen.

Der deutsche Anthropologe Dr. Felix von Luschan sah zwischen den Religionsgemeinschaften Raa Haq (Kizilbasch), Aleviten, Tahtadschis und Jesiden eine Verbindung: „Mit einer sicheren Betonung können wir sagen, dass zwischen den Aleviten, Tahtadschis, Jesiden und Kizilbasch trotz den unterschiedlichen Lebenweisen eine alte Verbindung besteht. Ich betone vorallem, dass sie alt und vorislamisch sind und man sollte sie nicht als degenerierter Arm des schiitischen Islams betrachten. Meiner Meinung nach können wir sie als ein Volk einer Zivilisation betrachten, dessen Name wir nicht mal kennen. – 7. Januar 1880“

Glaubenslehre
Raa Haq beruft sich auf keine heiligen Schriften. Die Vermittlung religiöser Traditionen und Glaubensvorstellungen beruht ausschließlich auf mündlicher Überlieferung.

Die Gravur wurde aus der ethnografischen Zeitschrift ‚Globus‘ entnommen, die von 1862 bis 1910 in Braunschweig erschien. Auf dem Bild, welches aus dem Jahre 1890 stammt, ist ein alevitisch-kurdischer Raa Haq-Derwisch aus der Stadt Riha (Urfa) mit seinem Musikinstrument Tembur in der Hand und mit der Wasserpfeife im Hintergrund zu sehen. Die Gravur wurde auch als Postkarte verwendet.

Heiliges Instrument: Tembûr

In meiner Hand meine Bağlama
widme ich Fakten und der Wahrheit mein Leben
Denk nicht, ich sei buchlos (gottlos)
Das lebendige Buch (Mensch) ist meine Identität…

Aşık İbreti (Hıdır Gürel

Die Raa Haq Anhänger lesen im Vergleich zu monotheistischen Religionen bei ihren rituellen Zeremonien keine Versen aus den Büchern. Sie singen in Begleitung des Tembur, ein Zupfinstrument mit drei Saiten ihre religiösen Gedichte. Ohne Tembûr ist eine religiöse Zeremonie für Raa Haq Gemeinschaft nicht vorstellbar, weil sie die Menschen zusammenschweißt, ihnen Zusammengehörigkeitsgefühl vermittelt und dem Individuum zur Identitätsbildung verhilft.

Deshalb gilt das Instrument ‚Tembur‘ als heilig und wird ‚Telli Quran‘ (Koran mit Saiten) oder auch Tembura Pîr (Das Tembûr des Geistlichen) genannt. In der Zeit des Osmanisches Reich wurde der Gottesdienst der Raa Haq mit Musik als Sünde und als Teufelswerk begriffen. Der Volksdichter Âşık Dertli (1772-1846) kritisierte diese Unterstellung und die Mentalität mit einem Gedicht: ‚Saiteninstrument heißt es. Weder kennt es Suren noch den Richter (islamischer Richter). Nur derjenige, der darauf spielt, versteht den Sinn dahinter. Wo ist hierbei der Teufel?‘. [8]

Im Islam ist gemäß dem Glauben der Muslime der Koran die Offenbarung Gottes. Im Raa Haq Glauben ist ein anderes Gottesbild vorhanden. Es plädiert das Einswerden mit Gott-Natur-Universum. So wie der Koran im Islam für die Muslime wichtig ist, so relevant sind die religiösen Gedichte und Klänge für Raa Haq.

Gebete
Zu verschiedenen Anlässen gibt es so genannte Gulvang (frei übersetzt: der Ruf der Rose)-Gebete, die von geistlichen Führern bei religiösen Zeremonien vorgetragen werden. Dabei legen die Gemeindemitglieder ihre Hände auf den Tisch und erwähnen dabei den Gott, indem sie zwei Mal ‚Allah Allah‘ rufen.

Folgende Gulvangs werden ausgesprochen:
– Gulvange Sama (Gebet zum Semah-Ritual)
– Gulvange Sifri (Gebet zum Mahl)
– Gulvange Qurvani (Gebet zum Tieropfer)
– Gulvange Niyaji (Gebet zum Fasten)
– Gulvange Morey (Gebet zur Trauung)
– Gulvange Raye (Gebet zur Reise)
– Gulvange Hewn (Gebet zum Schlaf)
– Gulvange Xizire Thuzike (Gebet zum heiligen Xizir)
– Gulvange Civata Heqiye (Gebet zum Gottesdienst)
– Gulvange Çıralıx

In den Gebeten taucht der Dschihad (Anmerkung: Kampf und Krieg auf dem Wege Gottes) nicht auf. Rache oder Vergeltung oder die Gegenantwort einem Massaker gegenüber mit einem erneuten Massaker lehnen sie ab. Stattdessen überlassen sie die Menschen mit schlechten Taten dem Xizir, den Heiligen, Weisen und ihren heiligen Stätten. Der Fluch mit den folgenden Worten „Möge dein Ocax (dt.: Herd, Feuerstelle) ausbrennen“ gilt als eines der schlimmsten Vordeutungen.

Das Auslöschen des Feuers durchs Wasser wird als eine Sünde gesehen. Es sollte eher mit der Erde bedeckt werden. Ein Leben ohne Licht ist aus der Sicht der Raa Haq Gemeinschaft nicht möglich.

Dichtung
Mit ihren Liedern, Klängen und religiösen mystischen Texten drücken die Volkssänger und Volksdichter der Raa Haq ihre Verbundenheit zu ihren Heiligen und zum Gott, ihre Sehnsucht nach einer Welt in Frieden und Brüderlichkeit aus. Die Klagelieder wiederspiegeln ihre Schmerzen, schlechte Erfahrungen und Sorgen. Personen, die Civat-Zeremonie mit ihren Klängen und ihren Gesängen begleiten, heißen: Zakir.

In den Bezirken Kocgiri, Dersim und Kürecik ist die Abschiedszeremonie mit musikalischer Begleitung häufiger zu sehen. Während ein Teil der Raa Haq Gemeinschaft heute von ursprünglichen Abschiedszeremonien abweichende Bestattungszeremonien nach islamischem Ritus verwirklicht, beharrt ein wichtiger Teil, der gegen die Assimilation durch Islamisierung kämpft und somit zur Strömung der wahrheitsliebenden Raa Haq-Anhänger zählt, auf die ‚Verabschiedung der Seele‘ in Begleitung der Klagelieder und des Semah-Rituals zur Unsterblichkeit.

Raa Haq und Wissenschaft
Die weisen Menschen tragen in der Gesellschaft die Aufgabe, den Glauben mit Erfahrungen und mit dem Wissen aufrichtig an die weitere Generationen zu tragen. Der Wissenschaft und Bildung wird im Raa Haq Glauben ein großer Wert beigemessen. Sey Qajî war der Meinung, dass ohne Wissenschaft und Bildung eine Gesellschaft blind ist. Dichter wie Sey Qajî, Erdem Bava und Aschiq Ibreti und Geistliche wie Bava Hesenê Baskoye (Başköylü Hasan Efendi) werden aufgrund ihrer kritischen Herangehensweise an soziale und politische Ereignisse, Widersprüche und ihren Bemühungen um Wissenschaft als wahrheitsliebende Menschen (trk.: Hakikatçiler) gesehen.

Der Dichter Aschiq Ibreti appellierte an die Menschen, nicht auf Erlöser zu warten sondern selbst zu handeln:
„Es wird keiner kommen, warte nicht umsonst.
Verschwende deine Zeit nicht damit.
Solange du gegen die Ungerechtigkeit widerstehst,
wirst du den kommenden Mahdi auch nicht nötig haben!“

Sowohl die Hölle als auch das Paradies ist im Glaube der Raa Haq auf dieser Erde. So beschreibt der Geistliche Pîr Hüseyin Gazi Metin den Weg dieses Glaubens:

Die Liebe ist unsere Religion, unsere Kabaa ist der Mensch
An der Cem-Zeremonie der Vierzig ist jede Seele gleichberechtigt
Für uns ist sowohl Gottloser als auch Muslim gleich
Ich bin der Qizilbasch unseres Anatoliens!

Mit ‘Allah’ jage den Menschen kein Angst ein.
Mit Paradies tröste ich nicht die Unwissenden
Die Brücke aus einem Haar ist ein Traum, glaube nicht an Aberglaube
Ich bin der Qizilbasch unseres Anatoliens!

Weltanschauung und Philosophie
Laut der Denkweise des pantheistischen Mystikers Mansur-al Halladsch ist der Mensch das Ebenbild Gottes. Aus seiner Sicht war eine Pilgerfahrt nach Jerusalem oder Mekka nicht notwendig, da der Gott dem Menschen innewohnt, wenn jedes Individuum sein Ego und all die schlechten Eigenschaften loswird. Dem Glauben der Raa Haq nach gibt es ein einziges Gotteshaus bzw. Haus des Glaubens und dies ist das gesamte Universum selbst. Sie brauchen keinen genauen Zeitpunkt oder Ort zum Beten.

Der weise Dichter Aschiq Daimi (1932-1983), der ein Teil dieser Gemeinschaft war, brachte mit seinem Gedicht ‚Ich bin der Spiegel des Universums (Originaltitel: Kainatin Aynasiyim)‘ zum Ausdruck, dass das göttliche Licht in jedem Menschen vorhanden ist:

Ich bin der Spiegel des Universums
Denn ich bin ein Mensch.
Ich bin der Ozean der Wahrheit
Denn ich bin ein Mensch.

Der Mensch und die Wahrheit sind Eins
Was du suchst, findest du im Menschen
Der Mensch besteht aus Erkenntnissen
Denn ich bin ein Mensch.

Ich könnte die Thora schreiben
Die Bibel könnte ich in Verse fassen
Den verborgenen Gehalt des Koran erfühle ich
Denn ich bin ein Mensch.

Ich, Daimi bin ein Trümmerhaufen
Ich bin die Erde unter den Füßen
Ich bin ein Instrument, durch dessen Klang Gottes Liebe auftönt.
Denn ich bin ein Mensch.

Übersetzung: Ismail Kaplan

Die weisen Dichter des Weges betonten in ihren Gedichten, dass die Menschen friedlich zusammenleben sollten. Der Volkssänger Nesimi Cimen, der am 2. Juli 1993 mit 34 weiteren Menschen dem Brandanschlag der Fundamentalisten zum Opfer gefallen ist, ruft die Menschheit zur Menschwerdung:

Was soll diese Polemik um Alevite und Sunnite. Was soll dieser Hass gegen Juden. Wofür dieser Streit über Ungläubige/Christen und Moslems. Wofür diese Diskussion über Beduinen? Jede Geburt ist unschuldig. Dieser Ort ist das Haus des Menschen. Ich muss jeden als Bruder sehen und wieder lachen..

Verbundenheit mit der Natur

Heiliger Fluss Munzur

Im Mittelpunkt des Glaubens steht neben der Menschheit und dem Universum die Natur. Es gibt zahlreiche Bäume, Steine und Flüsse, die als heilige Orte gelten. Die Raa Haq Gemeinschaft hat fast in jedem Dorf oder Stadt einen Heiligen und dafür Pilgerorte. Einige davon sind Guzel Bava, Çori Bori, Sey Safi (Sabun), Coşîk Bava, Duzgin Bava,Goşkar Bava, Munzur Bava, Buyer Bava, Cogi Bava, Tujik Bava, Bava Dewrês, Sarı Saltuk, Sey Qajî, Dewreş Cemal, Xıldıryês, Ziyareta Goman, Kanya Mêrga Axe, Kanya Jêrın, Avdel Mursa (Abdal Musa), Kalmem, Çoban Dede, Anafatma, Êlê Terê, Karsniye, Xaskar (Haskar) und Elif Ana. Auch in der Stadt Palu, die heute vielmehr von Muslimen bewohnt wird, gibt es eine Pilgerstätte der geistlichen Trägerfamilie ‚Sey Safi (Sabun)‘. Einer der wichtigsten heiligen Orte ist der Berg ”Duzgin Bava” (Vater Duzgin). Die Liste könnte weitergeführt werden. Über diese Heiligen werden mehrere Legenden erzählt. Die Glaubensanhänger pilgern zu ihren heiligen Quellen und heiligen Bergen, um Kerzen aufzustellen und ihre Wünsche auszusprechen. Es werden an diesen heiligen Orten auch etwas von einer pulverförmigen Erde „Teberik“ in den Mund gelegt. Sowohl die Erde als auch Steine werden in einen Lederbeutel gelegt und nach Hause gebracht. Sie hängen diese an der Wand oder bewahrten sie zuhause an einer hohen Stelle auf.  Teberik ist eine sehr dünne und weiche Erde. An verschiedenen Pilgerstätten glauben die Menschen, dass sie dadurch heilen. Diese Rituale finden meistens am Donnerstag statt. Es ist ein heiliger Tag für Raa Haq Anhänger.

Auch die Jagd auf Tieren ist aus der Sicht der Bevölkerung eine Sünde. Über die Gämse gibt es zum Beispiel viele mythologische Sagen. Obwohl die Jagd auf Tierarten wie Gämse sowohl durch den türkischen Staat als auch durch die Volksverteidigungskräfte (HPG) verboten ist, kommt es immer wieder zu Massakern an Tieren.

Ein armenischer Bürger namens Adranik aus Dêrsim reiste 1888 von Gêxî bis ins Innere Dêrsims. Seine Notizen zu seiner Reise veröffentlichte er im Jahre 1901 in Tifli erschienen Buch ‚Dersim‘. Die Anhänger dieses Glaubens bezeichnet er darin als Qızılbaş (dt.: Rotkopf). Weiter äußert er, die Religion der Dêrsimer seien über alte Glaubensrichtungen und Traditionen entstanden und sei ein neuer Glaube. Adranik betont in seinen Memoiren, dass die Glaubensanhänger im Monat Ramadan nicht fasten und auch das anschließend stattfindende Ramadan-Fest nicht feiern. Die Gemeinschaft glaube an die Reinkarnation. Die Seele würde als Tier wieder in die Welt zurückkehren.
Die Aleviten glauben an die Wiedergeburt bzw. Wanderung der Menschenseele.  In der Lehre des Raa Haq Glaubens kommt die von Ego, Angst und Besitzgeist gereinigte Seele von Gott und kehrt heim, um nach angemessener Zeit in einen neuen Körper zu übergehen. Der Körper stirbt, aber die Seele wandert, denn alle Seelen ruhen bei Gott, bis sie erneut Gestalt annehmen und auf die Welt zurückkehren. [9]

Weiter erzählt Andranik, dass diese Gemeinschaft gastfreundlich ist und die Sonne, der Mond und die Sterne verehrt werden. Auch die Frau habe eine besonderen Stellenwert.

Naide Duymaz, Angehörige dieser Gemeinschaft berichtet über die tiefe Verbundenheit mit der Natur und die Weltanschauung: „Mein Vater wachte vor Sonnenaufgang auf, wusch sein Gesicht und richtete sich zur Sonne. Er rührte seine Hände über sein Gesicht und sprach folgendes Gebet aus: „Oh Gott! Helfe zuerst armen Menschen, Wölfen und Vögeln, die hungern und hilfebedürftig sind und zunächst uns“. [10]

Dr. vet. M. Nuri Dêrsimi (1893-1973), der ebenfalls der Raa Haq Gemeinschaft angehörte, schrieb in seinem Buch ‚Dêrsim in der Geschichte Kurdistans‘, dass es für jeden Dêrsimer eine Pflicht war, vor dem Schlafen und nach dem Aufwachen in Richtung Sonne zu ‚Hode (Persisch: Khoda, Kurmancî: Xwede, Kirmanckî: Homa)‘ zu beten. Die Sonne ist für Raa Haq Gemeinschaft Gottes Glanz oder Gottes Licht. ‚Bê asm u roz dina tariya (dt.: Eine Welt ohne Mond und Sonne ist finster)‘, zitiert nach dem Geistlichen und Dichter Sey Qajî. Sonnenanbetung ist vielmehr eine Behauptung und Unterstellung seitens Menschen, die den Glauben Dêrsims nicht gut kennen und oberflächlich herangehen.

Die Verbrennung der Wälder, die Zerstörung ihrer Orte fassen sie als ein Verbrechen an der Natur auf. Aysel Doğan, Friedensaktivistin und ehemalige Vorsitzende der Alevitischen Glaubens- und Kulturakademie in Dêrsim (DAKAD) bezeichnet in einem Interview die Waldbrände als ein Massaker an der Natur und spricht von ihren Gefühlen über die Lebewesen: „Ein Waldbrand bedeutet dabei nicht nur brennende Bäume, sondern den Tod vieler Lebewesen. Denn im Wald leben zum Beispiel tausende Käfer und Grashüpfer und auch große Tiere wie Hirsche, Wölfe, Bären oder Schildkröten. Alle diese verbrennen dort im Feuer. Vielleicht weil sie sich verirren, ihre Verteidigungstriebe sie dahin lenken oder aus anderen Gründen laufen viele dieser Tiere in Richtung Feuer. Wenn du zum Beispiel eine Schildkröte aus der Nähe des Feuers nimmst und sie weiter entfernt davon absetzt, läuft sie wieder zum Feuer zurück. Ihre Schreie, wenn sie in den Tod gehen, sind fürchterlich.
Auch das Verhalten der Vögel ist dramatisch. Viele Vögel versammeln sich über dem Feuer und stürzen sich oft hinein. Sie versuchen nämlich die Käfer, Fliegen und Grashüpfer zu fangen. Doch dabei sterben sie selbst. Das ist die Realität, es ist ein Massaker.“ [11]

Der Stellenwert der Frau
Der christliche Missionar Henry Riggs, der im September 1911 nach Dersim reiste, schrieb über die Rolle der Frau: die in der Region von islamischen Gebräuchen beeinflusst sind. Die kurdischen Frauen bedecken ihren Kopf nicht mit einem Tuch, und sie leben auch nicht fern von den Männern an einem anderen Ort. Sie teilen Verantwortung und Rechte. Zuhause mit den Männern im gleichen Maße. Sie beteiligen sich am religiösen Leben zusammen mit den Männern. Im gesellschaftlichen Leben herrschen gegenseitige Achtung und Freiheit‘. [12]

Religiöse Führung
In vielen alten Klageliedern ist das Wort ‚Qanune Kirmancîye‚ (dt.: Die Gesetze bzw. Normen von Kirmancîye) auffallend, welches die authentischen Normen, Tugenden, Traditionen und sozialen Einrichtungen Dêrsims und ihrer Religion erläutert. [13, 14]

Damit die Traditionen und Gottesdienste gemeinsam ausgelebt werden, werden Civat-Zeremonien (dt.: Versammlungen) verwirklicht, die neben Gottesdienst als als Gerichtssaal dienen. Die Gemeindemitglieder tragen ihre Probleme und Streitigkeiten in eigenen Versammlungen aus. Todesstrafe gibt es allerdings nicht. Die schlimmste Strafe ist der Ausstoß aus der Gesellschaft.

Die Raa Haq Gemeinde wird geistlich von ihren Priestern bzw. hoch geachteten geistlichen Trägerfamilien ‚Ocax‘ geleitet. Der Raa/Ray (dt.: Weg) wird durch drei Gruppen vertreten. Die vierte Gruppe besteht aus Laien. Die Gottesdienste werden im Allgemeinen von einem Rayver/Rayber und Pîr geleitet; zu ihrer Durchführung der Civat, d.h. die Versammlung, zwölf religiösen Personen benötigt, die sogenannte zwölf Dienste verrichten. Ohne Einverständnis aller Gemeindemitglieder können sie nicht diese Dienste verrichten.

Der Begriff ‚Dede‘ (dt.: Großvater), der Pîr erklären soll und etymologisch sich vom Türkischen ableitet, dient vielmehr der andauernden Assimilation der Raa Haq Gemeinschaft. Aus diesem Grund wäre die Verwendung der Begriffe in der eigenen Muttersprache: Rayber/Rayver, Taliv und Pîr sinnvoll. „Uyo ke sari rê lawatino rozê yena ke êsan u vıran maneno. (dt.: Wer einem anderen dient, bleibt eines Tages nackt und hungrig)„, sagt ein altes Sprichwort aus Dêrsim.

Jedes Mitglied der Raa Haq Gemeinde, das die Gesetze und Regeln des Weges anerkennt und ein Versprechen gibt, hat je nach der Zugehörigkeit einen Rayver (dt.: Wegweiser), Pîr (dt.: Der alte weise Mann; Meister) oder Mürsid (dt.: Leiter, Ziehvater). Jeder Angehöriger muss vier Tore und vierzig Stufen durchlaufen. Jedes Tor enthält jeweils zehn Gebote, woran man sich halten muss, um Insan-i Kamil (d.t.: vollkommenen Menschen) zu werden.

Ein Ocax umfasst in absteigender Reihenfolge drei Gruppen:

1. PÎR (Der alte weise Mann; Meister) steht für den höchsten Ehrentitel eines Vertreters der Gesellschaft. Er muss aus einer geistlichen Trägerfamilie stammen und die Lehre von ‚Çar him, çewres çêver (dt.: Vier Tore und vierzig Pforten) verinnerlicht haben. Jeder Pîr hat auch einen Pîr, dem er verbunden ist. Der Pîr des Pîr heißt laut Dr. Peter J. Bumke ‚Morsit‘ und steht für das Tor der Haqiqat (dt.: Wahrheit).  [15]

Zu seinen Aufgaben gehört die Begleitung des Talıvs (dt.: Laien, Schüler) auf dem mystischen Weg zur Reifung durch vier Tore und vierzig Pforten. Sie halten religiöse Versammlungen und beraten die Laien in religiösen Fragen. Dafür erhalten sie als Gegenleistung sogenannte Çıralıx (dt.: Recht des Lichts), auch Loqmê Heqi (d.t.: gesegnetes Mahl Gottes) genannt, Gaben in Form von Geldgeschenken oder Naturalien. Die Geldabgaben der Laien investiert er für die Ausgaben der seiner geistlichen Trägerfamilie. Den Rest teilt der Pîr gleichberechtigt mit Waisen, Witwen, Armen und Unterdrückten. Im Jesidentum erhalten die Scheichs, die ranghöchste Kaste nach dem Mir (Fürst, Prinz) haben gleiche Aufgaben und erhalten dafür von ihren Murids eine jährliche Summe Geld. [16]

2. RAYVER/RAYBER (dt.: Wegweiser und der geistliche Führer des Weges) erzieht mit seinem Wissen die Gruppe der Schüler über die Bräuche, ethischen Regeln und Traditionen informieren und ist gleichzeitig für das Verhalten seiner Schüler verantwortlich. Er sollte geistig und körperlich gesund sein, die Erziehung und Bildung von vier Toren und vierzig Pforten vollzogen haben. Rayver soll laut Bumke für Seriat-Tor (dt.: Gesetzes Tor) stehen.
Er hat mehrere Aufgaben. Ein Wegweiser muss den Glaubensdienst, die Abschiedszeremonie bzw. Bestattungszeremonie leiten, die Traaung und andere Dienste führen können.

3. MORŞIT (dt.: Leiter, Ziehvater)
Er ist für die Gruppe der Schüler verantwortlich und muss die Sorgen und die Probleme der Gemeinschaft anhören und dafür Lösungen erbringen. Er muss das Mitspracherecht des Klägers, der sich zu Rechenschaft zieht oder des Angeklagten bewahren und hat als Ziehvater im Falle der Zustimmung aller Anwesenden der Versammlung das Recht darauf, eine Entscheidung zu treffen. Der Schüler kann dabei seiner Entscheidung nicht widersprechen. Wie Rayver muss er sowohl geistig als auch körperlich gesund sein und die vier Tore und vierzig Gebote ausstudiert haben. Morsid muss Streitigkeiten innerhalb der Taliv-Gruppe lösen.

4. TALIV (dt.: Schüler)
Jeder, der einen Eid auf den Weg legt und das Versprechen abgibt, wird Taliv genannt. Er muss die Anweisungen von einem Ziehvater befolgen und wird so durch in die Mystik, also ins Tor des mystischen Weges eingebracht. Unter anderem lernt er, gute Taten vollzubringen und Tugend der Bescheidenheit, Anständigkeit und Wohltätigkeit zu verinnerlichen. Jene, die von der Stufe des Seriat in die Stufe des Tarikat schreiten, gründen richten sie als ersten Schritt die Institution Mısayivêni (dt.: Wahlbruderschaft) ein.

Er muss das Ego überwinden und seine Gelüste abschwören. So läuft er von der Begierde zur Liebe, von Vielheit zur Einheit und begrabt den Hass und die Rache. Erfüllt er im Laufe der Zeit diese Voraussetzungen, so tritt er ins Tor des Erkenntnisses (Marifet). Als Nächstes kann er die Endstation der Wahrheit (Hakikat), d.h. das Geheimnis der Existenz erreichen. Die göttliche Erfahrung ist ihm hier sicher und er kann Gott in sich und sich in Gott betrachten.

Kommunalität durch Institutionen

‚Mısayivêni (dt.: Wahlbruderschaft)‘ und Kewraene (dt.: Patenschaft) sind besonders wichtige soziale Institutionen, denn sie vermeiden Konflikte, Armut und Verelendung und pflegen die Einheit und das Zusammenhalt in der Gesellschaft. Gleichzeitig sorgen sie für die Aufrechterhaltung der religiösen Werte.

Kewraene/Kirivatî (dt.: Patenschaft) etabliert eine Hilfsgemeinschaft zwischen zwei Familien und ist eine heilige Bürde, die viel wichtiger als eine gewöhnliche Verwandschaft ist.

Vor der Beschneidung sucht die Familie des Kindes einen Patenonkel aus einer anderen Familie. Für Gesundheit und Sicherheit des Jungen ist bei der Beschneidung der Kewra/Kiriv (dt.: Patenonkel) verantwortlich. Er darf das Vertrauen der Familie des Kindes nicht brechen und muss darauf achten, dass dem Jungen bei der Beschneidung nichts passiert. Der Patenonkel ist verpflichtet, lebenslang im Todesfall des Vaters oder in der Not der Familie zu helfen und muss das Kind so wie er seine leiblichen Kinder auch betrachtet, an ihn auch gleichberechtigt herangehen und darf nicht das Kind von eigenen Kindern unterscheiden.

Die Patenschaft bringt auch schwerwiegende gesellschaftliche Verantwortungen mit sich. Auch in dieser sozialen Einrichtung ist die Heirat der Kinder beider Familien bis zu zwölf Generationen untersagt. In der Institution Mısayivêni dagegen ist die Heirat bis zu sieben Generationen verboten. [17]

Die Patenschaft und die damit verbundene Verantwortung kann nicht an andere Personen übertragen werden. Wer seiner Verantwortung als Patenonkel (Kirve) nicht nach kommt, kann im Rahmen einer Glaubenszeremonie vor Gemeindemitgliedern zu Rechenschaft gezogen und aus der Gesellschaft ausgeschlossen werden. Konflikte oder Uneinigkeiten zwischen Stämmen wurden oftmals durch diese entstehende Freundschaft behoben.

Mısayivêni (dt.: Wahlbruderschaft), diesen Brauch findet man auch in der jesidischen Religions- und Glaubensgemeinschaft unter dem Namen ‚Birayê/ Xweha axretê‘ (Bruder/Schwester für Jenseits) wieder. Beide Institutionen ähneln sich aneinander und besitzen die selben Funktionen und Aufgaben. Im Jesidentum ist jeder Jeside dazu verpflichtet, sich einen Jenseitsbruder oder Schwester aus einer anderen Kastengruppe Şêx (Gelehrter), Pîr (Religiöser Geistlicher und Priester) und Murîd (Laien und Ratgeber der Gemeinschaft) auszuwählen. Im Raa Haq-Glauben ist es ebenfalls ein Pflicht, dass ein Raa Heqî einen Wahlbruder findet, um ein vollkommenes Mitglied der Gemeinschaft zu werden. Der Geistliche (Pîr) muss ein oder zwei Tage vorher die Lage prüfen, wie bewusst und bereit die Kandidaten der Wahlbruderschaft sind. Falls sie noch nicht die Voraussetzungen erfüllen, werden beiden Kandidaten eine Zeit zur Reifung zur Verfügung gestellt. Es kann je nach der Situation ein paar Tage oder auch bis zu einem Jahr dauern.

Auf einer religiösen Cem-Zeremonie werden zwei Personen, die verheiratet sind und sich gegenseitig auf dieses Bündnis verständigt haben, anschließend mit Zustimmung der Ehepaare als Misayiv verbunden. Ohne Zustimmung der Ehepaare kann dieses Ritual nicht verwirklicht werden. Sie müssen in Anwesenheit der Gesellschaft und des obersten Geistlichen (Pîr) einen Eid auf den Schutzpatron Xizir, auf ihre heiligen Orte und auf Haq (Gott) legen. Bei den Yarsan bzw. Ahl-e Haqq, die in Süd-Kurdistan (Nordirak) und in Ost-Kurdistan (Iran) leben, heißt das entsprechende Bündnis šarq-o eqrār („Verpflichtung und Bekenntnis“). [18] Wer gegen dieses Regel verstoßt, wird wegen sittliches Verderben aus der Gesellschaft ausgeschlossen.

Bräuche, Feste und Feiertage

Eine Reihe von religiösen Festen und Veranstaltungen der Raa Haq:
– Gağan bzw. Sera Newe (Neujahrsfest)
– Houtomal/Heftemal (Frühlingsfest)
– Rocê Xızıri (Fasten zu Ehren des Schutzpatrons Xizir)
– Rozê Anafatma (Fasten zu Ehren der Wassergöttin Ana Fatma)
– Rozê Des u Dı Yimamu (Fasten aus Trauer zu 12 Imamen)
– Sonstige Fasten

Roşanê Sera Newe – Neujahrsfest in Dêrsim

Der Beginn eines neuen Jahres wird bei den verschiedenen Völkern und Glaubensgemeinschaften in unterschiedlichen Jahreszeiten gefeiert. Auch die Anhänger der Glaubensgemeinschaft ‘Raa Haq/Riya Haq (dt.: Weg der Wahrheit)’ feiern das sogenannte Sera Newe bzw. Gaxan/Gağan, das Fest zum neuen Jahr. Gaxan leitet sich vom armenischen Wort ‘Gaghant’ ab. Es heißt: Neujahr. In Kırdaşkî/Kurmancî nennt man das Neujahrsfest: Îda Sersalê [19] und in der Sprache Kirmanckî müsste das Neujahrsfest eher Roşanê Sera Newe heißen.

In erster Linie ist zu betonen, dass dieses Fest nicht in der heutigen verkleinerten Provinz Tunceli sondern in den Gebieten Koçgîrî, Dersîm, Palu, Çolig, Erzincan, Gımgım, Hınıs und Umgebung gefeiert wurde und keinerlei mit dem armenischen Neujahrsfest Ähnlichkeiten hat und fast mit dem Galandar (Alatakolos)-Fest der Pontos-Griechen aus dem Schwarzmeer identisch ist. Dazu könnt ihr den 16-minütigen Dokumentarfilm von Sencer Bulut mit englischen Untertiteln ansehen:

In Dêrsim hatten die Menschen eigene Zeitberechnung. Sie nannten ihr Kalender ‚Hesavê ma ra‘ (Nach unserer Zeitrechnung) oder ‚Hesavo Khan ra‘ (Nach alter Zeitrechnung), womit eigentlich das Rumi-Kalender gemeint ist. Zwischen dem Rumi-Kalender und Gregorianischen Kalender besteht eine Differenz von 13 Tagen. Das Fasten und Fest Gaxan fällt auf die dritte Woche des Monats Dezember. Für die Religionsgemeinschaft Raa Haq ist der Tag 21. Dezember äußerst wichtig, weil an diesem Tag das Licht die Dunkelheit wieder zurückdrängt und die Wintersonnenwende stattfindet. Deshalb fasten sie hindurch nicht als Zeichen der Trauer, sondern eher als Zeichen der Freude über den Beginn eines neuen Jahres. Beim Aufbrechen des Fastens gibt es keine Speiseregeln.

Während in dem Landkreis Gımgım/Varto der Provinz Dêrsim das Fasten und Fest am 20. Dezember und 21. Dezember beginnt, sollen die Menschen im Osten, Norden und Osten Dêrsims zwischen 21. Dezember und 31. Dezember drei Tage lang gefastet und anschließend gefeiert haben. Je nach dem Stamm wurde es in unterschiedlichen Wochen ausgeübt, weshalb es manchmal vorkam, so dass es ein Monat dauerte und die Menschen mehrere Wochen in einer Feststimmung waren. Der Monat Dezember wird zugleich als Asma Gağene (Monat des Gaghans) definiert. [20]

In furchtbaren langen Nächten ist der ehrenwürdige Gast ein vollkommener Mensch, also ein Insan-i Kamil. Und in dieser Region wird Kale Gaxan wie Kale Xizir (Der alte Xizir) ebenfalls als ein weiser Mann und vollkommener Mensch bewertet.

Die alten Menschen bereiteten sich vorher auf das Fest und bewahrten Wallnüsse (Goj), getrocknete Birnen (Qhax) und Körnchen (Hadik). Die Kinder wachten während des Festes früh auf und gingen in Begleitung von einem Mann, der als „Kalo Gaxan (Alter Mann Gagan) mit weißem langen Bart bekleidet ist, und einer alten Frau namens ‚Fato‘, von Haus zu Haus. In manchen Regionen wurden sie auch wegen unterschiedlichen Mundsprachen Kalik und Fatik genannt. Die Jugendlichen und Kinder sangen dabei Lieder, womit sie den Menschen das Neujahr verkündeten. Nachdem die Hausbesitzer die Tür öffnen, forderten sie Geschenke: „Gağanê Sıma Bımbarek Bo. Gağanê mı bıde (sinngemäß übersetzt: Frohes neues Jahr. Gibt unser Geschenk)“.

Die ärmsten Dorfbewohner fühlten sich berechtigt, die ganzen Geschenke zu sammeln. Sie trugen ihre Satteltasche auf den Schultern und sammelten Butter, Mehl und Reis. Auch arme Menschen aus den Nachbardörfern konnten in ein anderes Dorf gehen und dort ihren Bedürfnissen nachgehen. Die Jugendlichen trommelten den gesamten Teil der gesammelten Sachen in einem Haus zusammen und kochten gemeinsam Essen. Sie unterhielten sich mit Musik und einem Rätselspiel, was ‚tiştik‘ hieß. Einen Teil der Geschenke teilten sie mit armen Familien. Der Sinn und Zweck dieses Festes ist wieder kommunal. Es wurde als eine gute Tat wahrgenommen, wenn man von Jugendlichen und Kindern vorbereitetes Mahl nahm und aß. Für Jugendliche und Kinder war dies eine große Ehre.

Wer nichts geben konnte, wurde kritisiert und getadelt. Jeder versuchte deshalb, etwas zu geben. Den Kindern schenkten die Bewohner Süßigkeiten und Nussfrüchte und den jungen Frauen und Männern ein Paar Socken, die beide junge Generationen glücklich machten.

Während des Festes wurden die verheirateten Tanten und Schwestern besucht und aufgrund ihren Beiträgen in der Familie gemäß der finanziellen Situation reichlich beschenkt und respektiert.

Der Donnerstag war ein besonders wichtiger Tag des Festes. Jeder zog die schönsten Kleider an und an diesem Tag organisierten die Menschen verschiedene Veranstaltungen. In frühen Morgenstunden besuchten die Bewohner des jeweiligen Dorfes ihre Pilgerstätte. Jeder zündete auf den Steinen gemeinsam eine Kerze an und wünschten mit den Worten ‚Oh du neuer Herrscher. Du kommst unters Volk. Gib uns Gesundheit, ein neues Glück und Segen. Bringe Unheil und das Böse weg von uns. Wir sind Dir dankbar!‘ und ähnlichen Sprüchen ein frohes neues Jahr. Vor allem die alten Menschen wünschten in ihren Gebeten von ihren Heiligen , dass sie zuerst ihre Nachbarn und zuletzt sie selbst beschützen. Nach den Gebeten wurde das gesegnete Mahl untereinander gleich verteilt. [21]

Am Silvestertag wird anlässlich des neuen Jahres das Gericht Babuko/Zirfet (Zere vet)/Sîr gekocht. Zwar wird das Gericht heute mit einem Nationalgericht verglichen, doch in der Realität sah es anders aus. Die Menschen kochten in der Vergangenheit das Gericht wegen ärmlichen Umständen und Bedingungen. Babuko mit Fleisch war für viele Menschen früher eher ein Traum.

Die Zubereitung dieses Gerichts unterscheidet sich aufgrund der Heiligkeit des Tages. Feth (fettir) bedeutet in deutscher Sprache Teig ohne Hefe. Zum Mehl gibt man Wasser und mischt dazu Karbonat und salzt sie beliebig. Die Masse knetet man bis sie fest wird und gibt sie in eine geölte, flache Form und legt sie in den vorgeheizten Backofen. Für den Aufguss gibt man zum Joghurt das Wasser und rührt es. Anschließend gibt man den geriebenen Knoblauch etwas Salz dazu. Zunächst nimmt den fertigen Teig aus dem Backofen, bricht sie in kleine Stücke und verteilt sie auf gleicher Form. Bis hierhin gibt es keine Veränderung. Der Unterschied liegt nur darin, dass drei Holzstücke in der Länge von vier bis fünf Zentimetern ins Essen gelegt wird.

Diese drei Holzstücke haben alle verschiedene Bedeutungen. Eines der Holzstücke symbolisiert den Dewlet (Staat), der nicht ein Staatssystem sondern vielmehr Reichtum und eine führende Rolle symbolisiert. In Dêrsim wurden reiche Menschen für „Dewletli (Staatsbesitzer)“ gehalten. Das zweite Holzstück heißt „cot-gar/cıtkar“ (Landwirt) und das dritte Holzstück wird Qismet (Schicksal) bezeichnet. Allgemein wurden die Holzstücke als Nasip (Los oder Geschick) gesehen. Die Menschen waren neugierig und wolten wissen, ob sie im neuen Jahr Glück haben werden und wie sie das neue Jahr erleben werden. Wer beim Verzehr „Dewlet“ wiederfindet, wird als Glückspilz der Familie bezeichnet. Und der zweite Stäbchen sollte nicht einem Fremden geworfen werden. Cotkar steht für eine traurige Phase und ein schlechtes Leben. In unterschiedlichen Regionen hatten die drei Bäume im Essen andere Bedeutungen. Qismet und Dewlet wurden zum Beispiel als ein Holzstück unter dem Namen ‚Dewlet (Staat)‘ im Essen versteckt. Als Zweites kam Cotkar/Citkar (Landwirt) und zuletzt Siwan (Hirte). [22]

Nach der Mitternacht rannten die Frauen aus dem Haus an die Brunnen. Sie glaubten, dass das neue Jahr mit neuem Wasser ein Segen und Glück mitbringen wird. Das mitgebrachte Wasser aus dem Brunnen verwendeten sie in der Küche, in dem Lagerraum von Weizen und Mehl und im Stall als Weihwasser, um ihr Haus und ihre Familie vor Unheil und vor dem Bösen zu schützen. Davor sprach jeder ein Gebet aus und trank eine Tasse Wasser. Dieses Wasser erhielt den Namen ‚awa sersala nuw/awe sera newe‘ (Das Wasser des neuen Jahres). In manchen Häusern geschah das Tragen vom Wasser bis in die Morgenstunden. Man glaubte in der Nacht, dass das Wasser der Kraft fließt.


Gleichzeitig gab man auch den Haustieren das Wasser zum Trinken und gab den Tieren Hirse als Futter. Somit würdigte man ihre Dienste für die Familie. Auch aufgefädelte Hirsestückchen wurden in eine Ecke des Stalls aufgehängt, um eine gute Ernte im kommenden Jahr zu haben. [23]

Ähnliche Bedeutung des Fastens bei den Jesiden
Ein ähnliches Fasten und Fest wie Gaxan in der Religionsgemeinschaft Raa Haq gibt es auch in der jesidischen Glaubensgemeinschaft. Das Fasten heißt Rojîyên Şêşims (Tage des Seshims), welches im Vergleich zu diesem Fest Anfang Dezember an einem Dienstag beginnt und am Donnerstag endet. Die Jesiden fasten zu Ehren des Sonnenengels von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang und wünschen in ihren Gebeten längere Sonnentage, weil die Sonnentage vor der Wintersonnenwende immer kürzen werden. Äußerst wichtig ist die Sonne im Jesidentum, die in Dêrsim ebenfalls besondere Rolle spielt. Nach dem letzten Fastentag beginnt anschließend am Freitag das Cejna Şêşims, das Fest zu Ehren der Sonne.

Frühlingsfest: Hawtamal (Hewtemal oder Xewt u Mal)
Neben Hewtemal wird die Begrüßung des Frühlings auch Qere Çarseme (Schwarzer Mittwoch) auch genannt. Viele Völker auf der Erde feiern den Beginn einer neuen Jahreszeit, die neue Hoffnung, den Frieden und die Versöhnung in die Welt bringt.

Der 21. März hat im Raa Haq eine symbolische Bedeutung, weil der Tag genauso lang ist wie die Nacht (Tagundnachtgleiche). Dieser Tag wird als Geburtsstunde des Lichts (Tages) bzw. als Sieg des Lichtes über die Dunkelheit (Nacht) gefeiert. In der Lehre Raa Haqs hat das Licht einen zentralen Stellenwert, denn es gilt als Quelle jeglicher Existenz. Das Fest wird Xewt u Mal (dt.: Sieben der Kleinviehe) genannt und als Fest für die Natur gefeiert.

Laut mythologischer Sage und Erzählungen symbolisiert die Zahl 7 die sieben Farben des Sonnenlichts. Auch bei diesem Fest findet ein religiöses Zusammentreffen der Gemeinschaft an heiligen Flüssen statt. Sie sprechen Fürbitten aus, teilen Gaben mit besonders bedürftigen Menschen und zünden in der Versammlung Çıla (dt.: Kerzen) an, während der Pîr (Geistlicher) ein ‚Gulvang‘ ausspricht. Im Zusammenhang steht das Anzünden von Kerzen für das Erwecken des Lichts. Mit mystischen Gedichten wird anschließend das Semah-Ritual ausgeübt.

Xizir im Glaube der Raa Haq

Der Glaube an den Schutzpatron Xizir und Kult um ihn ist in der Provinz Dêrsim sehr weit verbreitet, so dass Flüsse, Wasserquellen, Berge, Steine und sogar Brücken und Landkreise nach seinen Namen benannt wurden. Es gibt unzählige Mythen und Sagen über Xizir, der im Glauben Dêrsims eine dominierende Gottheit darstellt. Zur Andacht des Heiligen Xizir finden in anderen Glaubensgemeinschaften wie Jesiden Feste und Fastentage. Laut Sagen soll Xizir das Wasser der Unsterblichkeit getrunken haben.

Eines Tages leitet der Geistliche Bava Hesenê Baskoye 1970 im Landkreis Pilemoriye (trk.: Pülümür) eine religiöse Versammlung. Laut Erzählungen der Menschen soll er plötzlich während der Zeremonie für eine kurze Zeit verschwunden sein. Die Menschen fragten ihm, was passiert ist. Daraufhin soll Bava Hesenê Baskoye erzählt haben, dass ihn der Schutzpatron Xizir gerufen hat und sie gemeinsam das Versenken eines Schiffes im Meer verhindert haben. Jene, die behaupten, sie seien persönlich an der Glaubenszeremonie beteiligt, erzählen mit großer Begeisterung von diesem Ereignis. [24]

Es wäre aber nicht falsch, zu behaupten, dass der Glaube an Xizir in der gesamten Geographie nicht gleich ist. Das liegt daran, dass in Dêrsim viele Trägerfamilien bestehen und die soziale, kulturelle und sprachliche Vielfalt dieser Stämme einen Einfluss auf ihren Glauben und ihre Glaubensausübung hat.

Xizir ist ein Schutzengel, der seinen weißen Schimmel treibt, um Menschen, die in Not stehen, zur Hilfe zu eilen und auf ihre Weg ihnen beizustehen. Der Geistliche Sey Mahmut Yildiz aus der geistlichen Trägerfamilie Kureysch beschreibt Xizir in seinem religiösen Gedicht als Wegweiser, der in verschiedenen Gestalten auftretet:

„Oh lieber Xeylas, oh lieber Xızır
Du bist immer mit uns. Du wächst über uns,
Oh lieber Xeylas, oh lieber Xızır
Manchmal erscheinst Du als Armer,
manchmal als Erhabener

Du, der Xızır über dem Meer,
Du, der Besitzer des Gewitters
Du, der Wegweiser von Moses,
Lass uns in unserer Not nicht alleine.“

Die Schriftstellerin Sema Kaygusuz erzählt in einem Artikel: „Als ich Gott das erste Mal sah, war ich acht. Er war ein hochgewachsener, verwahrloster Mann. Er öffnete das Gartentor so selbstverständlich, als käme er nach Hause, stand im Hof, schaute mir in die Augen und sagte: „Ich habe Hunger!“ Ich lief zu meiner Großmutter und berichtete ihr, ein Bettler frage nach Essen. Aufgeregt setzte sie ihm ein Gastmahl vor.

Zwischen meiner Großmutter und dem Bettler schien eine geheimnisvolle Welt zu existieren, von der ich nichts ahnte. Tief in mir spürte ich, dass zwischen einem hungrigen Mann und einer Frau, die ihm freigiebig ein Gastmahl vorsetzt, ein moralisches Gesetz herrscht, vermochte das Erlebte aber nicht vollständig zu begreifen.

Als der Bettler aufgegessen hatte, ging er aus dem Haus, wiederum so, als verließe er sein eigenes Heim. Kaum war er fort, bestürmte ich Großmutter mit Fragen. Mit zitternder Stimme erklärte sie mir, jener Mann sei Gott höchstpersönlich gewesen. So ein Wesen also war Gott. In Gestalt eines bedürftigen Menschen, dem man sich fürsorglich zuwendete, den man sättigte.

Der Gott meiner Großmutter war ein heiliger Mann, der aus der antiken Welt vor dem Übergang zum Monotheismus stammte. Sein Name war Hizir. Er war durch die Epochen gewandert, durch verschiedene Sprachen und Kulturen, hatte neben der Fähigkeit, für Fruchtbarkeit zu sorgen und die Seeleute zu beschützen, noch weitere Qualitäten wie Weisheit, Leidensfähigkeit, handwerkliches Geschick hier erworben, dort verloren und war schließlich als Bettler vor meine Großmutter hingetreten. Er war ein Spiegelbild, entstanden lange vor dem Islam und anderen monotheistischen Religionen, das zeigt, wie alt die Mythologien der menschlichen Zivilisationen sind und wie vital zugleich die latent gemeinsame Kultur auf Erden geblieben ist.“ [25]

Fasten zu Ehren des Xizirs
Es gibt zu Ehren des Xizir auch ein sogenanntes Fastenmonat ‚Asma Xizir‘.Im Februar fasten sie drei Tage lang an den Tagen Dienstag, Mittwoch und Donnerstag. Da die Raa Haq sich nach dem nach dem Julianischen Kalender richtet, beginnt das Fasten eigentlich im Monat Januar. Je nach dem Stamm und den Gebieten Dêrsims variiert die Fastenzeit. Der Autor Munzur Cömert verbindet diese unterschiedliche Fastenzeit mit dem Besuch Xizirs an verschiedenen Tagen. Jedoch soll dies in der Realität eine Anpassung der Geistlichen gewesen sein.

Die Jugendlichen trinken am letzten Tag des Fastens bis zum Schlaf kein Wasser, weil sie glauben, den zukünftigen Ehemann oder die zukünftige Ehefrau in ihren Träumen sehen zu können. Sie warten mit großer Aufregung und Freude darauf.

Das Fasten der Raa Haqs unterscheidet sich vom Fasten anderer Religionen und bezieht sich nicht auf innere Abrechnung. In der Lehre der Raa Haq ist das unkontrollierte Ego die Ursache für alle schlechte Sachen. Aus diesem Grund kann das Ego nicht durch Fasten gezüchtet werden und muss eher unter Kontrolle gebracht werden. Über das Gefühl von Hunger und Durst sagt man: Loqmera lokme vereno. Dieser Satz vermittelt die folgende Botschaft an die Menschen: „Wie arm du auch immer sein magst, gibt es ärmere Menschen als Dich. In diesem Sinne vergesse es nicht, mit anderen Menschen dein Lokma zu teilen, wie wenig auch es immer sein mag. Es bringt also nichts, nach dem man satt ist, das Mahl zu teilen.“ [26]

Am Ende des Fastens findet anschließend die religiöse Zeremonie ‚Cemê Xızıri (Cem-Zeremonie zu Ehren des Xizirs)‘ statt, bei der Gemeindemitglieder sich freiwillig zu Rechenschaft ziehen und gezogen werden. Jene, die geklaut, Lügen verbreitet oder schlechte Taten begangen haben, dürfen ohne Einverständnis der Gemeinde nicht daran teilnehmen. Es wird das traditionelle ‚Kavut‘ aus Weizenmehl und Birnen hergestellt und über Nacht offen gelegt, wobei manche Familien das Mehl offen legen, mit dem sie am nächsten Tag die Gaben (Lokma) zubereiten. Man wünscht sich etwas und legt sich schlafen. Am nächsten Morgen sucht man nach Zeichen auf der offen gestellten Speise, um zu sehen, ob Xizir von dieser gekostet hat, was viel Glück und Segen für die Familie bringt.

Die Menschen schwören auf Xizir und glauben daran, dass über sie Unheil oder Unglück kommen kann, wenn sie lügen oder eine Sünde begehen. Dieser Glaube an Xizir wird von Anhängern der monotheistischen als Aberglauben und Irrtum deklariert. Laut Muslimen ist nämlich der Gott, wovor man fürchten müsse und  ihm nach Hilfe rufen müsse, weil er der Entscheidende sei.

Rozê Des u Dı Yimamu (Fasten aus Trauer zu 12 Imamen)
Nach dem Tod bzw. der Tötung des islamischen Kalifen Ali Ibn Talib wurde sein Sohn Hasan und später Hussain als Imam von schiitischen Muslimen anerkannt. Als Yazid, der Sohn von Alis Gegner und Feind Muawiya, sich zum Kalifen nannte, versammelte sich Hussain mit seinen Anhängern in Mekka, um ihm entgegenzutreten und lehnte sein Kalifat ab. In Kerbela wurde er am 10. Oktober 680 des Julianischen Kalenders, nach islamischem Kalender am 10. Muharrem 61, von den Truppen Yazids, die aus zehntausend Personen bestanden haben soll, umzingelt und starb mit 71 weiteren Familienmitgliedern, darunter auch Kinder. Die Frauen und Kinder dagegen wurden in die Gefangenschaft gebracht und nach Damaskus gebracht.

Anlässlich ihres Todes findet jährlich ein Fasten statt, womit an die 12 Imame, die in Kerbela in internen Machtkämpfen um die Erbfolge des islamischen Religionsstifters Mohammed, umgebracht worden sind, gedacht werden.

Die Schlacht von Kerbela steht laut dem Glauben der Raa Haq symbolisch für den Kampf zwischen Unterdrückten und Unterdrückern. Viele Anhänger des Raa Haq Glaubens gedenken 72 Menschen, indem sie 13 Tage lang aus Trauer gegen jegliche Ungerechtigkeit fasten und trauern. Im Unterschied zur schiitisch-islamischen Gemeinschaft finden keine fanatische Zeremonien statt, wo die Anhänger sich körperliche Schmerzen zufügen. Der Glaube Raa Haq steht gegen jedes Massaker, die sich die Menschen gegenseitig anrichten.

Roze Anafatma (Fasten zu Ehren von Anafatma)

Pilgerort ‚Anafatma‘

Ein Tag zuvor fasten hauptsächlich die Frauen zu Ehren Ana Fatmas, um ihren Schmerz und ihr Leid zu teilen. Deshalb dauern die Fastentage ein Tag länger. Die Menschen pilgern zu den Quellen oder zum Schrein ‚Jiara Ana Fatma‘, um Kerzen aufzustellen, Fürbitten vorzutragen und Wünsche auszusprechen. Im Alltag wird sie mit dem Mond gleichgesetzt.

Nach einer Sage soll Ana Fatma bereits vor der Geburt von Hassan und Hussein prophezeit haben, wie sie sterben. Die Legende besagt, dass Ana Fatma mit Gabriel ins Paradies geht und an einer Ecke des Paradieses zwei Kinder sieht, wovon einer ein rotes Tuch und das Andere ein grünes Tuch am Kopf trägt. Als Ana Fatma fragt, wer diese Kinder sind, antwortet Gabriel, es seien ihre Kinder. Zunächst stellt sie die Frage, weshalb sie grünes und rotes Tuch tragen. Darauf erhält sie ‚Dein Sohn Hassan mit grünem Tuch wird vergiftet und dein Sohn Hussein wird als Märtyrer in Kerbela fallen‘ als Antwort. Nachdem Anafatma das Paradies verlässt, trauert sie um ihre Kinder. Dem Glaube der Raa Haq nach soll Anafatma die Vermittlerin der Frauen am Tag des Jüngsten Gerichts sein und Wünsche der Frauen erfüllen. [27]

Während des Fastens sind Geschlechtsverkehr, Streitigkeiten, Feierlichkeiten, Dusche und Bartrasur, Verzehr von Fleisch, Ei und Zwiebel verboten. Es darf kein Blut gegossen werden und keinem Lebewesen Leid zugefügt werden. Dieses Regel gilt auch für die Natur, d.h. es dürfen die Pflanzen nicht gepflückt und Bäume nicht gefällt werden.

Die in ‚Yilanli‘, ein Dorf in dem Landkreis Pulur /Zerenik (trk.: Ovacik) der Provinz Dêrsim, lebende 73 jährige Zarif Bark erklärt den Ablauf des Fastens und darauffolgenden Veranstaltungen: „In den letzten Tagen des Rozê Des u Dı Yimamu (dt.: Fasten der 12 Imame) werden Civat-Zeremonien abgehalten. Die Schuldigen werden zu Rechenschaft gezogen, Konflikte und Streitigkeiten geschlichtet und Menschen versöhnt. Dieses Fasten findet aus Trauer zur Ermordung von 72 Personen statt, weil sie verdurstet sind und ermordet wurden. Es ist zugleich ein Examen der Beherrschung der Lende, Zunge und Hände. Da ich außer der kurdischen Sprache keine andere Sprache beherrsche, spreche ich beim Sonnenuntergang in meiner Muttersprache Gebete aus. Auch meine Mutter und mein Vater und ihre Eltern haben immer in ihrer Sprache gebetet‘. [28]

Nach dem Fasten wird Aschura-Suppe mit zwölf Zutaten gekocht und an die Nachbarn verteilt.

Glaube der Raa Haq aus der Perspektive ihrer Feinde

Von islamischen Mächten und Herrschern wurden die Raa Haq Angehörige als Häretiker und Ketzer erniedrigt, weil der Glaube und die Lebensweise dieser Gemeinschaft der islamischen Welt widersprach. Der Glaube an die Seelenwanderung galten den Angehörigen der Sunna laut Bumke als Beweise für eine Häresie.

Erniedrigung als Kerzenlöscher
Die Raa Haq Gemeinschaft war mit vielen Gerüchten konfrontiert, die eine Hetze beabsichtigten. In der Gesellschaft predigten die islamischen ‚Geistlichen‘, die Raa Haq Anhänger seien Gottlose und Ungläubige. Durch die Ermordung von sieben Ungläubigen reserviere man sich einen sicheren Platz im Paradies. Zu den schlimmsten und übelsten Unterstellungen und Beleidigungen gehört die erfundene Geschichte ‚Mum Söndü (Kerze ist erloschen)‘ in der Zeit des Osmanischen Reiches. Die Gemeinschaftsmitglieder würden bei ihren religiösen Zeremonien zusammenkommen und das Licht auslöschen, um in einer Orgie als gesamte Familie Geschlechtsverkehr auszuüben. Diese Diskriminierung hat sich bis zur Gegenwart durchgesetzt.

Laut Dr. v. M. Nuri Dêrsimi stimmten die Raa Haq einer Heirat mit Anhängern des eigenen Glaubens und der armenischen Gesellschaft zu, die gemeinsam mit Raa Haq Anhängern lebt. Es hätte Fälle gegeben, wo ’sunnitische Kurden‘ die Heirat mit einem ‚alevitischen Kurden‘ nicht zulässig fanden und sogar den Verzehr von Fleisch, das von Raa Haq Anhängern geschlachtet wurde, als eine ‚Haram (dt.: Sünde)‘ empfunden haben. Dêrsimi betont dabei, dass sie von damaligen Herrschern aufgehetzt und manipuliert worden sind. Die Diskriminierung und Versuche der Vernichtung durch islamische Herrscher sind die Gründe dafür gewesen, dass die Raa Haq Anhänger in der Vergangenheit in einem gewissen Abstand zueinander stand. [29]

Der in der Türkei überaus beliebte Fernsehmoderator Mehmet Ali Erbil moderierte die türkische Version vom „Glücksrad“. Die Sendung lief auf dem türkischen Privatsender STAR. Während der Sendung am 6. Oktober 2010 sollte gerade eine Live-Schaltung in die Stadt Erzingan (Erzincan) erfolgen. Das gelang zunächst nicht, das Bild blieb schwarz. Hierauf fragte Erbil ironisch: „Was machen die denn da? Spielen sie ‚Kerzen aus‘ oder was?“. Diese Worte brachten die Menschen auf die Straßen. Auf einer anderen Sendung sagte Erbil, er sei missverstanden worden und er habe selbst alevitische Freunde. Nach starken Protesten wurde die Sendung nicht mehr ausgestrahlt. Mehmet Ali Erbil besuchte das Mausoleum und Ordenshaus des Weisen Hüseyin Gazi und schwor in Anwesenheit eines Geistlichen ab, nie wieder solch eine Fehler zu begehen und bat um Vergebung. Als ein Gemeindemitglied wäre man mit hoher Sicherheit in solch einem Fall aus der Gesellschaft ausgestoßen.

Die Provokation ‚Sürgü‘ – Ein Indiz für andauernden Hass auf Raa Haq

Bei den Behörden, auf der Suche nach einer Arbeitsstelle oder an Schulen werden sowohl Schüler als auch Lehrer aufgrund ihrer religiösen Identität und ihren Namen diskriminiert.

In Sürgü, ein von Raa Haq Anhängern bewohntes Dorf, versammelten sich am 28. Juli 2012 hunderte islamistische Fundamentalisten vor dem Haus der Familie Evli. Sie skandierten ‚Sürgü wird euer Grab werden“, „dreckige Aleviten“, „dreckige Kurden“, „Aleviten – haut ab hier“, schlugen die Fenster ein und drohten, sie auszulöschen und wie beim Massaker von Sêvaz zu verbrennen. Die Angreifer stellten ein Ultimatum, das Dorf und das Haus innerhalb von 24 Stunden zu verlassen. Die betroffene Familie Evli warnte vor dem Angriff mehrmals den Ramadan-Trommler und baten ihn, damit aufzuhören. Trotz Hinweisen spielte er Trommel weiter. Einige Tage nach dem Angriff hetzte der Trommler in einem Zeitungsinterview weiter und stempelte die Familienmitglieder als Vaterlandsverräter ab. [30]

Hüseyin Cebe

Als weiteres Beispiel kann der Mord an Uşên Cebe (Hüseyin Cebe) herangeführt werden, der aus dem Bezirk Kürecik der heutigen Provinz Meletiye/Meletî (trk.: Malatya) stammte und in der Industriestadt Gebze auf einer Grundschule als Lehrer tätig war. Er wurde durch einen nationalistischen Lehrer ermordet, weil er im Fastenmonat ‚Ramadan‘ der islamischen Gemeinschaft nicht fastete und ethnisch gesehen Kurde war. Die Diskriminierung auf diese Art und Weise wird von Raa Haq Anhängern und auch Yarsan-Anhängern aus dem Iran als ein zweifacher oder dreifacher Tod und doppelte Ungerechtigkeit bewertet. Die systemkritische politische Ansicht, die nationale Identität und die religiöse Identität sind häufig ein Dorn im Auge der türkischen und iranischen Nationalisten und Fundamentalisten. Der Kurdologe, Turkologe und Schriftsteller Mehmet Bayrak, der dem Stamm und der geistlichen Trägerfamilie Sinemilli angehört, erzählt, dass bei dem Massaker in Gurgum/Meras (trk.: Kahramanmaras) die Kommunisten, Kizilbasch und Kurden die Zielscheibe waren. Dem Anthropologen Peter J. Bumke nach definieren die ‚drei K‘: Kizilbasch, Kurde, Kommunist die substantielle Minderheiten, welche einer in der Türkei weitverbreiteten Auffasung zufolge die Einheit des Staates bedrohen und daher durch Bekehrung, Assimilierung oder Verhaftung entweder vereinnahmt oder ausgegrenzt werden sollen.

Die Ahl-e Haqqs (Weg der Wahrheit) bzw. Yarsan, die der Religionsgemeinschaft ‚Raa Haq‘ in Dêrsim ähneln, werden in Ost-Kurdistan, im Iran, aufgrund ihrer Lebensweise und ihres Glaubens von schiitisch-islamischem Regime unterdrückt und diskriminiert. Genau so wie die Raa Haq Gemeinschaft in der Republik Türkei, ist die Yarsan Gemeinschaft in der Islamischen Republik weder in der Verfassung anerkannt noch werden ihnen die Rechte gewährt. In der Vergangenheit ruinierte das Regime mehrere heilige Orte von Ahl-e Haqqs. Auch sie waren gezwungen, ihre ursprüngliche Heimat zu verlassen und werden weiterhin im Alltag diskriminiert. Es löste im Jahre 2013 Empörung in der Ahl-e Haqq (Yarsan) Gemeinschaft aus, als iranische Beamte im Gefängnis einen Gefangenen yarsanischen Glaubens folterten und sein Schnurbart mit Gewalt abschnitten, obwohl im Glauben der Ahl-e Haqq eine wichtige Rolle spielt. Aus Protest gegen die Eingriffe in die Religionsfreiheit verbrannten daraufhin sich mehrere yarsanische Jugendliche.

Auch viele heilige Orte und die Heimatstädte der Raa Haq Anhänger wurden durch Staudamm-Projekte des türkischen Staats zerstört. Die Wald- und Hausbrände zwischen 1994 und 1995 in der Provinz Dêrsim erinnerten die Menschen an den Genozid von 1938. Oftmals kam es bei Gefechten der türkischen Armee mit den Guerilla-Einheiten der Organisationen PKK, TIKKO und MKP zu Waldbränden durch Artillerieschüsse und Luftangriffe des Militärs.

Dieses Foto wurde zwischen 1926-1928 von einem türkischen Offizier namens Nazmi Sevgen aufgenommen, der über Dêrsim Informationen sammelte und später am Völkermord teilnahm. Die Fotos wurden im Jahre 1950 in der türkischen Zeitschrift“ Tarih Dünyasi“ veröffentlicht. Er beschreibt dieses Foto mit den Worten „Während ich mich bemühte den Mann zu fotografieren, blickte er in die untergehende Sonne. Er stützte dabei seine Hand auf die Brust ab und sprach sein Fürbitte aus.“

Osmanischer Generaloberst beschreibt Raa Haq
Generaloberst Ziya Yergök nahm im Jahre 1908 an der Militäroperation gegen Dêrsim teil. Yergök befand sich in den Jahren meistens im Landkreis Ovacık/Vacuğe. In seinen Memoiren beschreibt er die Ausweglosigkeit der osmanischen Armee vor dem Widerstand der „Aufständischen“. Besonders wichtig sind aber seine Notizen über den Glauben Dêrsims. Gökalp bezeichnet den Glauben der Bevölkerung als lächerlich und hält es für typisch, weil es seinen Recherchen nach die Regeln des Islams in Dêrsim nicht gelten und die Bevölkerung zu ihren heiligen Orten pilgert. Er sei zum ersten Mal in seinem Leben solch eine Lebensweise begegnet. Seine letzten Worte in dem folgenden Textauschnitt deuten daraufhin, dass die Menschen in Dêrsim nicht nach dem heiligen Buch der islamischen Gemeinschaft gelebt haben:

Diese sind weder Schiiten noch Bektaschiten. Auch wenn sie von diesen beiden Konfessionen Elemente entnommen haben, besitzen sie einen lächerlichen und typischen Glauben. Sie sehen hohe Gebirge als ihre Pilgerstätte. Unter anderem betrachten sie die Bäume ebenfalls als heilige Orte. Sie glauben wie wir an den Allah, den Propheten (gemeint ist islamischer Religionsstifter Mohammed) kennen sie schlecht und recht. Doch, sie fasten nicht und führen kein Namaz. Sie sind von der Existenz des Korans unbewusst. Laut dieser Bevölkerung kann das Wasser den Schmutz, die Erde das Wasser und das Feuer die Erde reinigen.“ [31]

Widerstandsgeist
Der Glaube ‚Raa Haq‘ schreibt vor, gegen jegliche Ungerechtigkeiten auf der Erde eine Haltung einzunehmen und zu eigenen Wurzeln zu stehen. Deshalb fanden sie in ihren Bergen Zuflucht und leisteten gegen die Ungerechtigkeit auch bewaffnet Widerstand.

Der Verrat und die Leugnung eigener Existenz ist laut dem armenischen Reisenden Andranik für die Raa Haq Anhänger nicht akzeptabel und sie würden auf die Ergebenheit und den Verrat mit Feindlichkeit und Hass reagieren. Der Name von Sey Riza’s Neffe Rayber wird deshalb nicht an die Kinder weitergegeben, weil er den Verrat an Aliser Efendi und seiner Ehefrau Zarife und der gesamten Bevölkerung Dêrsims verkörpert. Sey Qajî (1860-1936), einer der bekanntesten Volksdichter und Pîr von Dêrsim betont in einem Gedicht, dass ein Leben eines Menschen ohne eigene Werte keinen Sinn hat und weist auf die Wichtigkeit der Muttersprache und der Identität hin:

Jede Pflanze wächst aus eigenen Wurzeln hervor.
Jedes Vogel zwitschert in seiner Sprache.
Wer seine Identität leugnet,
so wird jede Spur von ihm verloren gehen.

In der Geschichte hat es oft Aufstände und Widerstände gegen das Osmanische Reich und die Türkische Republik gegeben. Der Widerstandsgeist von Menschen dieser Geographie sind z.B. in den Gedichten des Dichters und Anführer des Koçgiri-Aufstandes Alîşêr Efendî spürbar:

Dêrsim ist die Heimat der Löwen,
Füchse können nicht rein!
Mein Herz, lass uns in die Berge von Dêrsim gehen
Was für eine schöne Heimat ist die Erde Dêrsims
Verfolgen wir das Band des Sultans
Was für schöne Blumen hat das rosige Dêrsim

Viele Sultane sind auf diese Erde gekommen
Um das zu nehmen, haben sie falsche Hoffnungen gehegt
Jeden Einzelnen hat es auf eine andere Weise verjagt
Die Ahnen und Linien der Nachfahren von Dêrsim sind nicht unterbrochen.

Übersetzung: Baran Ruciyar

Die Stämme Dêrsims waren Alîşer’s einziges Rückrat: Man sagt, dass die Osmanen alljährlich Dêrsim angegriffen haben, um ihren Anspruch auf Steuern dort geltend zumachen. Auf dem heiligen Berg Tujik wurden sie jedes Mal durch Stammeskrieger verhindert, Dêrsim einzunehmen.

Die Stämme sind großzügig im Namen der Gerechtigkeit
Der Berg Munzur steht dort zum Anbeten
Sein Herz nennt man den Berg Tujik
Sicher werden die Kugeln aus Dêrsim geschossen.

Übersetzung: Baran Ruciyar

Der Aufstand von Mamâdolî (Mehmet Ali)

Das osmanische Reich betrieb für eigene Zwecke und Ziele in vielen Regionen die „Teile- und Herrsche“ Politik, unter anderem auch in Kürecik. Dem alevitisch-kurdischen Stamm Mole Oxçe (Kasımoğlu), welcher in Êrxan (Akçadağ-Arxa) und Kürecik mit dem Mut berühmt war, wurden im Jahre 1889, 18 Dörfer angeschlossen. Mamâdolî (Mehmet Ali) aus dem Stamm Mole Oxçe (Kasımoğlu) wurde zum Führer des Bucaks* (*territoriale Verwaltungseinheit; Unterbezirk im osmanischen Reich) ernannt. Das Dorf Kasimon (Kasımuşağı) wurde zum Zentrum des Bucaks erklärt. In dieser Zeit sanken die Einnahmen des osmanischen Reiches. Die Bevölkerung Küreciks litt somit unter hohen Steuereinnahmen. Das Volk war nicht mehr in der Lage, die Steuern zu zahlen und es verarmte im Laufe der Zeit. Während des Ersten Weltkrieges und des Völkermordes an Armeniern, Aramäern und Assyrern forderte das osmanische Reich von Mamâdolî (Mehmet Ali) die Lieferung von Nahrungsmitteln und Pferden, und die Bereitstellung von Soldaten. Mamâdolî waren die Massakern und Pogromen des Osmanischen Reiches an Kurden, Aleviten und Armeniern bekannt. Deshalb lehnte er den Wunsch der Osmanen ohne Bedenken ab. Bei seiner Entscheidung zum Widerstand spielte seine Ehefrau eine wichtige Rolle. Die verschlechternde Beziehung zum osmanischen Reich , die mit dem Vorfall ‚Veli Pascha‘ im 19. Jahrhundert begann, wurde in kurzer Zeit dem Gouverneursamt in Xarpêt (Harput) mitgeteilt. Bestimmte Kreise, die von dieser Situation profitieren wollten, erzählten dem osmanischen Reich, dass Mamâdolî sich für einen Aufstand vorbereitet. [32]

Erzählungen von Mehmet Ali Köroğlu zufolge, der aus dem Dorf Körsüleyman stammte, soll die Osmanische Armee am Tal ‚Nalê Orde (Ordu Deresi)‘ die weiße Flagge gehisst haben, weil die Volkskräfte in ihren Augen stark seien. Ein Spitzel aus dem Dorf Tataruşağı, welches sich an Kasimon grenzt, habe der osmanischen Armee gemeldet, dass die Volkskräfte nicht stark seien, wie sie sich vorstellen würden und die Armee das Dorf innerhalb von ein paar Stunden einnehmen kann. Daraufhin erklärte das Osmanische Reich dem Stamm Mole Oxçe (Kasımoğlu) den Krieg. Mehmet Ali erlitt eine unvorstellbare Niederlage. Der innere Verrat war der entscheidende Grund für die Niederlage. Trotz dieser Niederlage rettete er in Êrxan (Akçadağ-Arxa), Kürecik und in der Umgebung lebende Armenier vor dem Genozid. Mamâdolî (Mehmet Ali), der schätzungsweise 25-26 Jahre Alt war, flieht ins Dorf der Alxas-Bewohner nach Bestepe in Elbistan und findet Zuflucht bei dem Onkel namen Hirbam’ı Sile seiner Ehefrau. Dort verbringt er eine kurze Zeit und ergibt ich freiwillig. Mamâdolî wird daraufhin ins Gefängnis von Xarpêt (Harput) geliefert. Vor seiner Hinrichtung soll die Mutter Mamâdolî’s bei dem Kommandanten die Freilassung ihres Sohnes verlangt und nach seinem Zustand gefragt haben. ‚Wird denn dein Sohn uns Steuer abgeben, wenn wir ihn verzeihen? Wird er uns Soldaten schicken und uns unterwerfen? Aus einer Verräterin wie dich kann auch nur so ein graumelierter Hund stammen“, soll der Kommandant geantwortet haben. Mamâdolî wurde anschließend in Xarpêt hingerichtet. Der Dichter Süleyman Sahin dass weitere Personen wie Kuşo aus dem Dorf Tapkinî, Cabaci aus dem Dorf Kepez, Mamikî aus dem Dorf Balhaci und Miçe aus Êrxan (Akcadag) ebenfalls durch Hinrichtungen ermordet worden sind und nach diesem Fall die Zivilbevölkerung durch Razzien, Gräueltaten und Festnahmen terrorisiert wurde. [33]

Nach diesen Ereignissen haben haben die Menschen in den Dörfern Lieder über den tapferen Mamâdolî gesungen. Die Legende Mamâdolîs wurde unter den Menschen weitererzählt und ist besonders in den Städten in Sêvaz (Sivas), Olbiston (trk.: Elbistan), Bazarcix (trk.: Pazarcik) und Meletiye/Meletî (trk.: Malatya) bekannt.

Frauen als Symbol des Widerstandes
Besa Siaye und Zarife Xanim symbolisieren in Dêrsim und der Umgebung den Mut und den Widerstandsgeist. Bese war ein Mitgied des Stammes Demenan. Sie verteidigte während des grausamen Genozids die Gebiete Dêrsims. Auch Zarife Hanim, die Ehefrau des Dichters und Kämpfers Aliser nahm an dem Aufstand Kocgiri gegen den türkischen Staat und am Widerstand gegen den Ethnozid von 1937-1938 teil. Beide Personen nahmen im Herzen der Bevölkerung ihren Platz und erreichten unter der Gesellschaft einen großen Ruhm. Während der Ereignisse in den Jahren 1937 und 1938 stürzten sich zahlreiche Frauen in den Abgrund, um nicht in die Hände der türkischen Armee zu fallen. Dies manifestiert eine Haltung gegen die Ungerechtigkeit und den Widerstandsgeist.

Statue von Seyusen

Die Bedeutung der Bûdelas

Seit der Vergangenheit legen die Menschen aus Dersim auf die „Verrückten“ großen Wert. Von den Bewohnern werden sie mit folgenden Ausdrücken Evliya, Derwis, Abdal oder Budela als weise Menschen angesehen. Es ist für sie eine Sünde, sie als „Verrückte“ zu bezeichnen. Wie schlimm sie auch immer beschimpfen, wagt man es nicht, über sie schlechte Worte zu verlieren. Es gehört zur größten Sünde, sie zu verletzen und auszulachen. Die „Verrückten“ von Dersim kennen weder Gut noch Böse. Sie hören nur auf ihr Herz, welches wie das Wasser von Munzur rein ist, glaubt man. Die Budelas brachten ohne Angst die Sehnsüchte, Ängste, Werte und den Zorn der Menschen zum Ausdruck.

Hierzu kann man Seyusen als ein Beispiel nennen. Zu seinem Gedenken wurde in Dêrsim eine Statue errichtet. Ein fröhlicher, freundlicher und wunderlicher Mann, der in der ganzen Region beliebt war und selbst im Schnee nicht selten barfuß ging. Aufgrund einer Ausgangssperre fand er niemanden auf der Straße. Er stellte den Polizisten vor Polizeirevier mutig die Frage „Wo habt ihr die Leute hingesteckt? Habt ihr sie umgebracht wie 1938?“. Während der tagelangen Folter im Revier lachte er nur. In den letzten Jahren seines Lebens soll er immer wieder gesagt haben, dass ihn eines Tages ein Verrückter umbringen wird. Im Herbst 1994 zertrümmerte ein Lehrer, der geistig gestört war und vom Staat beauftragt wurde, Seyusen im Schlaf mit einem Stein seinen Kopf. Zehntausende Menschen nahmen an seiner Abschiedszeremonie teil. Selbst die Guerillakämpfer schickten zu seinem Gedenken Rosen zu seiner Beerdigung.

Bava Bertal

Bava Bertal war ebenso ein reinherziger, guter Mensch wie Seyusen. Er verlor 21. April 2012 sein Leben. Er wurde in dem Dorf Kheyikan (Baylık) mit Teilnahme von tausenden Menschen beigesetzt. Bava Bertal bürgerlichem Namen Bertal Bilge hatte besonders wichtigen Platz in den Herzen der Menschen eingenommen. Bertal kam schätzungsweise 1933 zur Welt.

Über diesen alten und fröhlichen Mann werden bis heute von den Menschen viele Geschichten erzählt. Mal wird er mit den Soldaten der türkischen Armee erwähnt, mal mit türkischen Soldaten und mal als Dawulbaz (Trommler) auf Hochzeiten.
Es gibt Schmerzen, wovon man schwer erzählen kann. Die „Verrückten von Dersim“ sind die größten Träger dieser Schmerzen. Wenn sie sprechen, würden sie mit Blut geschriebene Geschichte den Menschen erzählen. Der Schmerz würde das Herz stechen, so dass der Mensch innerlich blutet. Für eine Gesellschaft, die den massenhaften Genozid wie 38 erlebt hat, ist dies gegen die Kugeln der Ausdruck des Wunsches nach Unsterblichkeit in der Persönlichkeit Bava Bertals. Es sind die Hauptmerkmale einer Gesellschaft, die Sehnsüchte zu mythologisieren und als eine Legende der nächsten Generation weiterzugeben. Sowohl Seyusen als auch Bava Bertal sind die Widerspiegelung der Trauma Dersims; rein, sauber und derwischhaft.

Verlust der kulturellen und religiösen Werte durch Genozid

„Jemand, der den Rost und Schmutz des System mitsich trägt, an dem Betrug beteiligt und im Cem eine Sekte wird, kann nicht Qizilbasch genannt werden..“

Alişêr Koçgiri (Yücel Halis)

Der Genozid 1937-1938 in Dêrsim, welchen die nationalistischen Kreise unter der türkischen Gesellschaft und der türkische Staat als Bekämpfung der Plünderer, Aufständischen und als Bekämpfung des Feudalismus betrachten, sind viele Werte dieser Region infolge einer systematischen Assimilationspolitik verloren gegangen.

Auf die Frage eines Menschen, wie es ihr gehe, antwortete die Dichterin Wakıle (Waka Kheké Yive Ali) mit folgenden Worten: „Meine Tochter. Kirmanciye existiert nicht mehr. Früher hatten uns die Stämme eingeladen. Wir übernachteten tagelang. Das Volk war damals arm. Doch es maß uns wie bei ihren Pîrs und Rayvers (religiösen Geistlichen) großen Wert bei. Wir sangen Klagelieder und Lieder. Wie auf einer Hochzeit versammelten um uns herum sehr viele Menschen. Die ganzen Nächte und Abend reichten unseren Liedern nicht aus. Bei der Rückkehr wurden wir mit Geschenken verabschiedet. Aber jetzt hat sich die Zeit geändert“. Wakile klagte darüber, dass man ihre Gedichte nicht aufgenommen hat und die Kultur und der Glaube Dêrsims verloren gegangen sind: „Nach dem die Wege in unsere Gebirge, die Schulen in unsere Dörfer, die Radios und Tapes in unsere Häuser kamen, hat das Volk seine heiligen Werte und seine Dichter vergessen“. Wakile kam schätzungsweise 1885-1890 zur Welt und starb in der Frühling des Jahres 1981. [34]

Selbstentfremdung des Menschen

Nach dem Militärputsch vom 12. September 1980 wurden in der Region Dêrsim 5000 Kinder und Jugendliche im Rahmen der Kampagne zur Islamisierung durch den Staat in die Koran-Kursen und islamische Gymnasien geschickt.

Dass diese Werte verlorengegangen sind, erkennt man an den Erzählungen, die mit dem Wort „Früher“ beginnen. Nämlich werden viele der oben beschriebenen Werten und Ritualen in der heutigen Zeit kaum noch ausgelebt oder praktiziert, stattdessen denkt die jüngere Generation, dass dieser Glaube sich auf 12 Imame der Schiiten oder Ahmed Yasevi und Haci Bektaschi Wali zurückführen lässt, obwohl dieser Glaube eine längere Geschichte besitzt. Im Laufe der Zeit verschwinden die Werte durch eine bewusste Assimilationspolitik des türkischen Staats und ihm horchende und staatsloyale ‚Geistliche‘, die intensiv einen Verrat an der eigenen Gesellschaft begehen.

Wenn die Raa Haq mit ihrer Lebensweise, Philosophie, Kultur und Glaubensausübung nicht eine „Andersartigkeit“ in religiöser, sozialer und kultureller Hinsicht aufweisen würde, hätte die Türkische Republik keinen Genozid wie 1937-1938 begangen und im Zeitraum 1980-1987 sich schuldig dazu gefühlt, fünf tausend Kinder und Jugendliche in die Koran-Kurse und die islamischen Gymnasien zu schicken. Es wäre nicht falsch zu behaupten, dass ein Dêrsimer, der freiwillig einen Koranunterricht erhalten würde oder sogar seine Kinder zu Koran-Kursen schicken würde, den höchsten Grad von Assimilation erlebt. Unsere Geistlichen haben die vier Bücher nicht gelesen, um ein Leben nach diesen Büchern zu gestalten, sondern um ihr Wissen zu erweitern. Unsere Menschen haben in der Vergangenheit das Leid eines Anderen nicht zu Eigenem erklärt, um wie die ermordeten Menschen zu leben, sondern weil es zu ihrem Charakter passt, gegen eine Ungerechtigkeit zu stehen.

Die Ereignisse in Dêrsim haben tiefe Spuren in der Gesellschaft hinterlassen. Wer den Einflus dieses Traumas verstehen möchte, kann das Leben des Volksdichters Davut Sulari unter die Lupe nehmen, der an zahlreichen religiösen Zeremonien in Dêrsim teilnahm, seine Gedichte in seiner Muttersprache Kirmanckî vortrug und nach dem Genozid nur noch in türkischer Sprache sang.

Über die Massaker in den Regionen Dêrsim und Kocgiri werden heute noch Klagelieder gesungen. In seinem Roman ‚Dêrsims Stimme: Die Kinder von 1938‘ bringt der Schriftsteller Cemal Tas seine Klage bei dem Heiligen Munzur zur Sprache:
Munzur Baba, erhabener Berg! Während der letzten Jahre hast du dich deines Volkes nicht angenommen, das sich zu dir flüchtete, du hast es nicht mehr beschützt.
Dein Herz zerbrach, als man dir das Volk, deine Kinder entrissen hatte. Wem nützen Natur oder ein Berg, wenn in den Tälern und auf den Hochebenen keine Menschenstimmen mehr zu hören sind? Was ist der erhabenste Berg noch wert, wenn dort keine Blumen tausendfach erblühen und das aufgeregte Zwitschern der Vögel verstummt ist? Welchen Wert hat das schönste Schloss, wenn es nicht bewohnt ist?
Munzur Baba, Krone meines Hauptes! Welche Totenstille! Wenn sie sich nicht mehr bei uns tummeln, welchen Sinn erfüllen wir noch? Welchen Wert hast du noch, wenn diese ehrlichen Menschen, diese gutherzigen Onkel, diese wackeren jungen Männer, die auf der Flöte spielen, diese Mädchen mit ihren bunten Kleidern, diese Sprache, diese Kultur, diese grasenden Herden, diese tausendfach verschiedenen Vögel, diese Rebhühner, mit ihren hennaroten Schnäbeln, diese zierlichen Rehe nicht mehr hier sind? Wenn keiner mehr hier ist, der die Saz spielt, wer soll noch Gedichte für dich schreiben und dir Lieder singen?
Hast du es nicht bemerkt mein Bruder? Seit 1938 nimmt mein Gram kein Ende.

Fazit: Auch wenn gewisse Kreise in unserer Gesellschaft den Weg von Rayver gehen und an der kulturellen Vernichtung mitwirken, die tausendfach schlimmer als physischer Genozid ist, müssen wir an unserer Geschichte festhalten. Es ist das Erbe unserer Vorfahren, das uns zum Menschen macht. Es sind die ethischen und kulturellen Eigenschaften unseres Glaubens, welcher seit tausenden Jahren zwischen Vernichtung und Leben steht. Unsere Identität ist in dieser Geographie, Lebensphilosophie und diesem Glauben verwurzelt. Ohne diese Werte ist für uns das Leben unmöglich und nicht akzeptabel. Wer seine Geschichte nicht forscht und nicht kennt und sich mit der Politik, die Degeneration der Kultur und Tradition und Assimilierung des Glaubens vorsieht, zufrieden ist, bleibt im Dunkeln unerfahren. Unsere Vorfahren, Mileto Khan (dt.: Ureinwohner Dêrsims) sagten nicht umsonst: „Kam ke aslê xo nas nêkeno. Roştia dina ra dûr maneno…(dt.: Wer seinen Ursprung und seine Identität leugnet und nicht weiß, wird dem Licht der Sonne beraubt sein).

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Einzelnachweise:
[1] ‚Raa Haqi – Riya Haqi: Dersim Aleviliği İnanç Terimleri Sözlüğü‘, von Erdal Gezik und Hüseyin Çakmak , Seite 153, erschienen 2010 in Ankara im Verlag ‚Kalan‘
[2] A Journey in Dersim (dt.: Eine Reise in Dêrsim) von L. Molyneux-Seel, Seite 49, erschienen in der Zeitschrift ‚The Geographical Journal (dt.: The Geographische Zeitschrift)‘, Band. 44, Ausgabe Nr. 1 – Juli 1914
[3] Entnommen aus dem Text mit der Überschrift ‚Dersim – Zentrum des Widerstandes‘ von Ercan Ayboga
[4] Sozioökonomischer Wandel und ethnische Identität in der kurdisch-alevitischen Region Dersim Vorwort: Günther Schlee. 1997. IV
[5] Sozioökonomischer Wandel und ethnische Identität in der kurdisch-alevitischen Region Dersim Vorwort: Günther Schlee. 1997. IV
[6] Tunceli’de Sünni Olmak: Ulusal ve Yerel Kimlik Öğelerinin Tunceli – Pertek’te Etnolojik Tetkiki
– ‚Kürdistan Tarihinde Dêrsim‘ von Dr. M. Vet. Nuri Dersimi, Seite 12, erschienen 1952 in Aleppo im Verlag ‚Ani Matbaasi‘
– Ik inci Koçgiri alani: http://kocgirikulturmerkezi.com/modules.php?name=Content&pid=10,
‚Dersim ve Koçgiri’nin Kısa Tarihi‘, Artikel von Mehmet Bayrak, veröffentlicht auf http://www.navkurd.net, aufgerufen zuletzt am 18.12.2014,
– ‚Devlet Dersim katliamıyla yüzleşmekten kaçınıyor‘ Islahhaber vom 04.05.2013
[7] http://www.unesco.de/3387.html
[8] ‚Aşık Dertli Baba‘ von Adil Ali Atalay Vaktidolu, Seite 112, erschienen 1998 im Verlag ‚Can Yayınları
[9] Das Alevitentum von Ismail Kaplan, Hrsg.: AABF, 2004
[10] ‚Kaybettiğim dilimin peşine düşüp gittim‘ Taraf vom 03.01.2011
[11] ‚Ein Waldbrand bedeutet nicht nurbrennende Bäume‘, Aysel Doğan am 16. September 2011 im Interview mit Ercan Ayboğa und Ellen Jaedicke, erschienen in der Zeitschrift ‚Kurdistan Report‘, Ausgabe Nr. 158 November/Dezember 2011
[12] ‚Alevilik ve Kürtler‘ von Mehmet Bayrak, S. 364-371, erschienen im Verlag ‚Öz-Ge Yayınları‘, Textausschnitt unter dem folgenden Link nachzulesen: http://www.dersim.biz/html/dinyab1.html
[13] Musikalbum: Yaşlılar Dersim Türküleri Söylüyor (Alte Menschen Dêrsims singen Klagelieder), Metin-Kemal Kahraman; Ada/Lizgé, Ist. 1996
[14] ‚Dilden dile taşınan hakikatler‘ Yeni Özgür Politika vom 10.12.2011
[15] Internationale Zeitschrift für Völker- und Sprachenkunde ANTHROPOS, Ausgabe: Band 74, 1979, ‚Kizilbas-Kurden in Dersim: Marginalität und Häresie‘ von Peter J. Bumke, Seite 534
[16] Dr. Zorab Aloians Beitrag zum Seminar ‚Die Geschichte der kurdischen Yeziden; ihre Religion – Gründe, die dazu führten, ihr Land zu verlassen – Zukunftsperspektiven in Deutschland‘ organisiert von Deutsch-Ausländische Gemeinschaft Westerstede e.V. am 17.02.2005
[17] Seyfi Mûxûndî: Kirvelik (Dersim’de Kirvelik), Gomanweb
[18] Asatrian, 1985; idem and Gevorgian, p. 507, http://www.iranicaonline.org/articles/ahl-e-haqq-people
[19] Doğu Ve Güneydoğu Anadolu’da Halk Takvimine Göre Yılbaşı‘ von Dr. Mustafa Aksoy
[20] ‚Pertek’te Gağan kutlaması‘ TuncelininSesi vom 20.01.2012
[21] ‚Eskiden Gağan nasıl kutlanırdı?‘ von Sakine Aktaş, geschrieben am 26.12.2007, veröffentlicht in der Online-Zeitung ‚www.cilagazete.com‘
[22] Quelle: ‚Kalo Gağand‘, Artikel von Seyfi Muxûndî, aufrufbar unter: http://gomanweb.org/GOMANWEB2/2008_gomanweb/Yazarlar/Seyfi_Moxundi/seyfi_moxundi6.htm
[23] ‚Der Ursprung der Nikolausbräuche in Anatolien‘ von SOS MUNZUR
[24] ‚Hızır Orucu Başlarken‘ TunceliEmek vom 31.01.2009
[25] ‚Der Gott der anderen Leute‘ Tagesspiegel vom 17.01.2011
[26] ‚Munzur Dersim Etnografya Dergisi (dt.: Ethnographische Zeitschrift Munzur Dersim), Ausgabe 22, Seite 4-17
[27] ‚Munzur Dersim Etnografya Dergisi (dt.: Ethnographische Zeitschrift Munzur Dersim), Ausgabe 22, Seite 4-17
[28] ‚Aleviler binlerce yıllık inanç ritüellerini sürdürüyor‘ Yüksekova vom 18.12.2014
[29] ‚Kürdistan Tarihinde Dêrsim‘ von Dr. vet. M. Nuri Dersimi, Seite 26, 38, erschienen 1952 in Aleppo im Verlag ‚Ani Matbaasi‘]
[30] ‚Ramadan-Krach bringt Hass auf Aleviten ans Tageslicht‘ DerStandart.at vom 03.08.2012
[31] 1890-1914 / Harbiye’den Dersim’e (Von Harbiye nach Dêrsim), Ziya Yergök, erschienen im Verlag ‚Remzi Kitabevi‘, 2006
[32] ‚Kürecik aşiretinin tanımı ve diğer komşu aşiretler, http://kurdkulturu.blogspot.de/2009/03/kurecik-asiretinin-tantm-ve-diger-komsu.html, zuletzt aufgerufen am 22.12.2014
[33] ‚Kürecik’te Kasımoğlu İsyanı‘ von Süleyman Şahin, http://www.nurhakisigi.com/?p=3864, zuletzt aufgerufen am 22.12.2014
[34] ‚Doğaçlamanın Ustası: Wakıle‘ von Dr. Daimi Cengiz, veröffentlicht am 17.06.2012 auf Gomemis.com, zuletzt aufgerufen am 22.12.2014, http://www.gomemis.com/portal/haberdetay.asp?ID=245